Von CÉDRIC WEIDMANN.
Vilém Flusser — noch nie gehört, zugegeben. Der verfolgte, Prager Jude, der schliesslich in Südamerika ins Exil fand, gehört allerdings zu den wichtigsten Denkern der digitalen Welt. Seine Medientheorie umfasst gewissenhaft alle Medien: Fotografien, Bilder, Schrift und Bücher, Informationstechnologien und -abläufe, aber eben auch Hypertexte und Spiele.
Unter den Spieltheoretikern ist er noch völlig unbekannt. Dies dürfte sich aber ändern mit dem 2013 erschienen Essay: «Ist das Leben ein Spiel? — Aspekte einer Philosophie des Spiels und eines Denkens ohne Fundamente» (Buchhandlung Walther König, Köln. Herausgegeben vom _Vilém_Flusser_Archiv an der Universität der Künste Berlin). Vier Seiten umfasst darin der Text von Vilém Flusser nur, während der Rest Interpretation von Florian Rötzer ist. Der ist unter anderem als Pionier des Netz-Journalismus und uns im Zusammenhang mit dem Gesamtkunstwerk bekannt.
Flussers Essay — mit dem Titel «Spiele» — aber ist der eigentlich Kern, denn mit grosser Dichte skizziert er nicht nur eine Definition des Spiels, sondern eine Philosophie, die auf dem Spiel basiert.
«Spiele»: Repertoire, Struktur, Kompetenz, Unviersum
Die Spieldefinition mutet erst einmal befremdlich an:
‹Spiel› sei jedes aus Elementen bestehende System, worin sich die Elemente regelmaessig verbinden. Die Summe der Elemente sei das ‹Repertoire des Spieles›. Die Summe der Regeln sei die ‹Struktur des Spieles›. Die Summe der moeglichen Verbindungen des Repertoires in der Struktur sei die ‹Kompetenz des Spieles›. Und die Summe der vollzogenen Verbindungen des Repertoires in der Struktur sei das ‹Universum des Spieles›.
Das klingt sehr abstrakt, ist aber nicht so schwer zu verstehen, ein Beispiel:
- Das ‹Repertoire› des Schachspiels besteht aus den Steinen und dem Brett.
- Seine ‹Kompetenz› sind alle möglichen Partien.
- Sein ‹Universum› sind alle bereits gespielten Partien.
Mit diesem Begriff löst sich Flusser von den üblichen Einschränkungen und geht über den Alltagsbegriff hinaus. So gibt es für ihn das «Denkspiel», das mit der Sprache (als Repertoire) und ihren möglichen Sätzen (als Kompetenz) spielt (vgl. Wittgenstein). Aber auch die verschiedenen Wissenschaften halten sich an diese Formen — und sind folglich Spiele.
Der Unterschied zwischen Schach und den anderen Spielen besteht jedoch darin, dass Schach geschlossen ist, das heisst, die Elemente ändern sich nicht, während das Denkspiel zum Beispiel mit den Veränderungen des Vokabulars (dem Repertoire) sich selbst ändert, also offen ist. Analog verhält sich natürlich die Wissenschaft, deren Instrumente und Paradigmen und sogar Untersuchungsgegenstände wechseln. Für Flusser ist dies jedoch keine gegebene Unterscheidung. Geschlossene Spiele können entschlossen werden. Zum Beispiel in Chess960 (einer Schachvariante), die die Struktur ändert, obwohl das Repertoire gleich bleibt. Dies erinnert an die Unterscheidung, die ich zwischen trägen und dynamischen Spielen versucht habe: Mit dem Unterschied, dass dort der Fokus auf den Räumen liegt, hier aber alle zugrunde liegenden Elemente gemeint werden.

Ein „übersetztes“ Spiel: Die gleichen Elemente, anders verknüpft, d. h. mit anderen Regeln.
Zurückweisung des Panludismus
Ist die ganze Welt also ein Spiel? Ein zentraler Punkt für Flussers Überlegung ist die Ablehnung des Panludismus. Die ganze Welt als Spiel anzusehen, würde bedeuten, ein inkompetentes Spiel zu haben. Das «Spiel der Spiele», wie er es nennt, muss deshalb zurückgewiesen werden. Es gibt nur unterschiedliche Spiele und diese haben spezifische Universen. Das heisst auch, dass es kein Universum gibt: Es kann «kein Weltall geben». Diese postmoderne Auffassung der zertrümmerten und in Einzelteile zerlegten Realität wird bei ihm durch die Idee des Spiels aufrecht erhalten. Der Mensch muss spielen, darin folgt er Huizinga. Aber die Spiele sind eben nicht immer in ihrem Magic Circle gefangen, weil sie offen sein können.
Dichtung und Philosophie als Erweiterung und Kritik des Spiels
So weit, so gut: Alles ist Spiel, aber nicht ein Spiel. Und alles hat seine Regeln. Das macht Sinn, wenn man bereit ist, einen gewissen Relativismus und Opportunismus zu akzeptieren und wenn man verdauen kann, dass auch Wissenschaften, Diskurse nur Spiele sind im Sinne von verbundenen Elementen. Wenn man das ohne grosse Schwierigkeiten eingestehen kann, ist die Aussage aber nicht sehr überraschend. Dafür kommen jetzt weitere Begrifflichkeiten hinzu. Um offene Spiele zu verändern, gibt es drei Möglichkeiten..
- Das Repertoire kann verengt werden. Dies nennt er ‹Philosophie› und ‹Kritik des Spiels›, sie versucht Elemente aus dem Repertoire auszusondern.
- Das Repertoire bleibt gleich, aber die Regeln (die Kompetenz) ändern sich. Dies nennt er ‹Übersetzung›.
- Das Repertoire kann erweitert werden. Dies nennt er ‹Dichtung›, wo neue Elemente zum Spiel, etwa neue Wörter zur Sprache, hinzugefügt werden.
Diese bekannten Begriffe haben hier eine ganz neue Bedeutung, aber, wie ich finde, eine überraschend plausible. Es ist tatsächlich möglich, Dichtung und Philosophie in der Tendenz solche Funktionen zuzuschreiben.
So ist jeder Mensch Spieler und seine Möglichkeiten, mit diesen drei Methoden Spiele zu ändern, befähigen ihn, machen ihn zum «Rebell». Dies kann er aber erst, wenn er sich bewusst wird, dass er ein Spieler ist. Das heisst, man kann zum Falschspieler werden, und das ist das Potential des Menschen. Allerdings ist er darin nicht frei, denn «er kann ein Falschspieler sein, wobei allerdings klar sein muss, dass sein Schwindeln ein legitimer Zug eines Metaspiels ist, von dem er nicht weiss, dass es ein Metaspiel ist.» Hier wird die Sache also ganz vertrackt und zeigt, dass uns das Spiel, obzwar wir es unernst betreiben können, immer gefangen hält. Zugleich wird die Idee des Magic Circle hier, wie erwähnt, abgelehnt. Die Idee des Metaspiels, das die Regeln und Betrüge des Spiels erster Ordnung betrifft, erinnert dabei an die Spieltheorie mit ihren Pre-Games. Das Spiel ist grösser als der Spieler und es ist bestimmt keine ‹freie Handlung›, wie sie Huizinga versteht.
Spiel ohne Spieler
Gehen wir wieder zur Definition oben zurück, dann sehen wir, dass Flussers Spiel keine Spieler benötigt, nicht einmal Handlung! Spiele sind Elemente. Punkt. Noch an anderer Stelle legt Flusser nahe, dass er mit Spiel eigentlich ein Grad der Informationsdichte bezeichnet und nicht das, was man sich gewohnt ist, nämlich in den «Vorlesungen zur Kommunikologie»:
Die Bedienung [eines Fernsehers] ist einfach, aber die Gründe, warum die Kiste funktioniert, sind undurchsichtig. Man nennt derartige Systeme strukturell komplex und funktionell einfach. Ihr Gegenteil sind strukturell einfache und funktionell komplexe Systeme, deren Aufbau durchsichtig ist, die jedoch in ihrer Bedienung Schwierigkeiten bereiten. Ein Beispiel hierfür ist das Schachspiel. Was Systeme vom Typ „Fernsehkiste“ kennzeichnet, ist, daß der mit ihnen Spielende selbst zum Spielball des Spiels wird: er scheint das Spiel zu meistern, ohne es zu durchschauen, und das Spiel verschluckt ihn. [Klick]
Genau darum geht es jedoch auch Flusser: Es kann keinen Spieler mehr geben, weil das Metaspiel über dem Spieler steht. Der Spieler ist für das Spiel also gar nicht mehr nötig, genauer — auch Apparate, Computer und andere Dinge können spielen. Nur Menschen jedoch können philosophieren, dichten, übersetzen. Eine ähnliche Theorie, die die Ideologien als Spiele rechtfertigt, findet sich — wenn ich Florian Rötzer richtig verstanden habe — im Essay «Unsere Spiele».
Rötzers Interpretation
Florian Rötzer arbeitet im Rückgriff auf Huizinga, Caillois und Kant die Ideen von Flusser weiter aus. Allerdings geht er dabei nicht sehr weit. Er bricht bemerkenswert geschickt eine Lanze für Killerspiele und zeigt auf, inwiefern sich die Moral vom Spiel trennen muss, eben weil es Metaspiele gibt und — interessant! — weil das Spiel selbst eine Gewalttat verübt, wenn es dem Spieler unbedingte Verantwortung für seine Taten auferlegt.
Verständlicherweise bezieht er sich auch auf Cardano (Nikolaus von Kues), der mit seinem Globusspiel auch das Denken als Spiel motiviert. Dieser Anknüpfungspunkt wird jedoch schlecht verständlich gemacht, denn es ist nicht so deutlich wie Cardanus Idee einer Unberechenbarkeit der theologischen Welt mit dem atheistischen Projekt von Flusser genau abgeglichen werden soll.
Fazit
Obwohl auf den ersten Blick ein unausgegorenes Spielkonzept zur Anwendung kommt, ermöglicht hier das Spiel eine postrukturalistische und postmoderne Theorie: Wenn das Spiel vom Spieler losgelöst wird, wird es plötzlich zum Massstab für die Welt, wenn auch nie für die ganze. Und wenn der Mensch sich als Spielenden begreift, ist es ihm möglich das Spiel zu ändern. Bei genauerer Betrachtung lässt sich damit konkret wenig anfangen. Wo sind die Gegner, wo ist das Outcome, wo sind die Regeln festgeschrieben?
Ein weiteres, aber interessantes Problem ist die Strukturiertheit seines Spielbegriffs. Im Gegensatz etwa zu Derrida, der im Spiel der Struktur eben gerade ihre Unberechenbarkeit, ihr Eigenleben bezeichnet oder zu Caillois, der neben dem geregelten Spiel auch das ungeregelte kennt, sind für Flusser das Spiel und die Struktur eng miteinander verbunden.
Aber Flusser hat das Verdienst, Philosophie und Dichtung als zwei in ganz andere Richtungen zielende Versuche darzustellen, Spiele zu ändern — und gibt damit eine Vorlage für einen Panludismus, der zugleich die Idee eines «Spiels der Spiele» ablehnt.
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