Von CÉDRIC WEIDMANN.
Heute gilt er als der Meilenstein der Spielwissenschaft.
Dass der niederländische Kulturtheoretiker eigentlich ein verstaubter Langweiler war, scheint keiner mehr zu beachten. Dabei zeugen seine Werke durchgehend davon: Unzählige historische Abhandlungen über die Niederlanden des 14. Jahrhunderts. Überragende Kenntnisse von der verstaubtesten Sprache der Welt: Sanskrit. Da ist auch sein „Herbst des Mittelalters“, sein bekanntestes Buch, das das Mittelalter als eine für den Verlauf der geistigen Geschichte Hinderliches gezeichnet hat. Für viele Wissenschaftler mochte das ein Bruch mit der optimistischen Verherrlichung des Mittelalters sein, eine kleine Revolution. Tatsächlich ist es vielleicht bloss ein langweiliger Neuzugang zu einer langweiligen Epoche. Da hilft ihm sein später Kampf gegen den Nationalsozialismus vielleicht nur bedingt, ihn interessant zu machen.
Alles in allem war er ein gelehrter Mann, ein erstklassiger Professor und nicht ganz unoriginell, aber viel unspektakulärer, als heute manch einer glauben will.
Homo Ludens – Vom Ursprung der Kultur im Spiel (1938)
Warum Huizinga in den letzten zwanzig Jahren eine unglaubliche Konjunktur erlebt, ist ein kleines anthropologisches Pamphlet, das er 1938 veröffentlicht hat. Im Gegensatz zum biologischen Homo Sapiens – dem wissenden Menschen – oder zum Bild des Homo Faber – dem (ver)arbeitenden Menschen – spielt Homo Ludens auf das Spiel an: Der spielende Mensch, findet Huizinga, steht am Anfang der Kultur.
Kultur
Dafür führt er eindrückliche Beispiele ins Feld. Das Spiel ist vermutlich älter als jede andere kulturelle Errungenschaft (ja, sie ist vielleicht gar keine kulturelle Errungenschaft, das ist ein Punkt, der in der Auseinandersetzung mit Robert Pfaller eine Rolle spielt): Selbst Tiere spielen.
Ausserdem sieht Huizinga in weitaus mehr Bereichen der Kultur Spielplätze, als das die Zivilisation gerne wahrhätte. In der Religion und ihren Ritualen zum Beispiel, bei der Partnerwahl und in anderen Bereichen.
Dabei zeichnet sich Huizingas Buch durch viele Beispiele aus anderen Kulturen aus (Huizinga fühlt sich als das, was man heute Ethnologe nennen würde). Ganz zu schweigen von den dutzenden Wörtern für „Spiel“ aus verschiedenen Sprachen, die mehr Fun Facts als echte Veranschaulichungen darstellen.
Definition des Spiels
Von der erwarteten Theorie des Spiels wie sie heute entwickelt wird, ist deshalb recht wenig zu finden. Man kann hier noch nicht von einer „ludischen Theorie“ sprechen oder von einer genauen Analyse der Spielmechanismen. Aber Huizinga ist von aussordentlichem Wert, nicht nur, weil er das Spiel in ein neues Licht gerückt hat, sondern weil er zum ersten Mal an einer Aufgabe gescheitert ist, der von nun an alle erliegen sollten: Der Definition des Spiels.
Selbst der Philosoph Robert Pfaller, der sich sehr für Huizinga begeistert, wendet ein, dass die Widersprüchlichkeiten in den Definitionen zum Spiel die grössten Fehler des Buches darstellten. Und unser Johan verhaddert sich gern darin: In immer neuen Varianten versucht er das Spiel zu definieren. Eine seiner wichtigsten Definitionen lautet:
Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel also zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als „nicht so gemeint“ und ausserhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäss verläuft und die Gemeinschaftverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders von der gewöhnlichen Welt abheben. (Huizinga, rowohlt 1987, S.22)
Es scheint offensichtlich, dass das nicht weit führt. Definitionen wie diese misslingen sehr bald und scheitern an ihren Bedingungen. Roger Caillois hat das eindeutig gezeigt und Huizinga hat sich manchmal selbst widerlegt. Spiele sind nicht immer freiweillig, sie sind nicht immer deutlich abgegrenzt, sie haben nicht immer Regeln und sind sehr häufig materiell begründet (man denke nur an Wetten oder Glücksspiele). Diese Definitionsprobleme hat Wittgenstein auch erst später so treffend formuliert.
Magic Circle
Wofür Huizinga heute Popularität erhält ist vor allem der Begriff des Magic Circle, des Zauberkreises, in dem die Spielhandlung vor sich geht. Er besagt, dass Spiele immer etwas Abgegrenztes vom normalen Leben sind, sie umgeben auch – so schliesst er weiter – die Spieler mit einem Geheimnis. Die involvierten Kinder zum Beispiel fühlen sich im Spiel in einem geheimnisvollen Bann, der sie von Nicht-Spielern abgrenzt.
Der Zauberkreis bietet eine fruchbare Grundlage für alle möglichen Ungetüme. Pfaller begründet auf ihm seine Definition des Spiels als eines psychologischen Affekts. Die Spieltheorie kann, wenn sie sich denn einmal darauf beruft (die soziologische Disziplin der „Game Theory“ interessiert sich selten für Huizingas sogennante „Play Theorie), damit die Abgrenzung einzelner Games und Subgames erklären. Andere wiederum können so das Spiel auch abwerten, indem sie sagen, es sei etwas nicht Ernstes und gegenüber dem echten Leben etwas minderwertiges.
Gegen diese letzte Begründung (die man auch bei Caillois finden kann) argumentiert aber Huizinga selbst. Unser Johan spricht beim Spiel vom „heiligen Ernst“, einem Ernst, der weitaus grösser ist als im echten Leben. Das Spiel stellt, so schliesst daraus Pfaller, nicht etwas Minderwertiges, sondern etwas Grösseres als das echte Leben dar.
Die Reduktion der Spieldefinition auf den Magic Circle ist zweischneidig. Einerseits widerfährt Huizinga für seine klugen Gedanken Gerechtigkeit. Andererseits ist das Konzept vielen Deutungsvarianten unterworfen und jeder nimmt den Zauberkreis gerade so, wie er will.
Fazit
Huizingas Werk gehört immer noch zu den wichtigsten Grundlagen einer jeden Play Theory. Seine Beispiele sind fundiert und seine Definitionsversuche überlegt. Huizinga wird aber für seine Beschützerrolle gegenüber dem Spiel von vielen überschätzt. Die Stärke des Buches liegt weder in seinen Definitionen noch in seinem Zauberkreis.
Tatsächliche Höhenflüge erreicht das Buch in den Begründungen des Spiels. In seinen Gedanken zu Falschspielern, Spielregeln und Spielverderbern. In philosophisch ausgesprochen virtuoser Rhetorik zeigt er, dass das Spiel als Begriff weitaus mehr ist als zum Beispiel eine Negation des Ernstes, sondern dass es der Kultur eigen ist, obwohl sie es nicht wahrhaben will.
Auch Robert Pfallers Interpretation von Huizinga zielt auf diesen Bereich ab. Er formuliert aus Huizingas Buch zwei Thesen, die widersprüchlich sind, die er aber beide für unverzichtbar hält. Erstens sei das Spiele eine notwendige Bedingung für Kultur und zweitens habe das Spiel die Tendenz aus der geschaffenen Kultur wieder verdrängt zu werden.
Auch wenn Huizinga es nie um diese beiden Thesen ging, so ist das doch ein gutes Beispiel dafür, wie vielfältig und fruchtbar seine Untersuchungen weiterentwickelt werden können.
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