Von JÁNOS MOSER.
Mit Wolfram von Eschenbachs Parzival oder Hartmann von Aues Erec sind nur ein paar Werke genannt, die der höfischen Literatur um 1200 zu ihrer nachhaltigen Durchschlagskraft verhalfen, sodass sich ein Zweig der Germanistik bis heute allein mit dieser literarischen Epoche beschäftigt. Nicht zu Unrecht: Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt der Literaturgeschichte hatte sich ein gewisser literarischer Konsens herausgebildet. Gattungen wie die Minnelyrik oder der Leich funktionieren nach bestimmten inhaltlichen und sprachlichen Festlegungen, Autoren verweisen aufeinander (vgl. den Literaturexkurs im Tristan), und nicht zuletzt wird durch Hartmann von Aues Übertragungen vom Französischen ins Deutsche der sogenannte „höfische Roman“ oder „Artusroman“ im deutschsprachigen Raum populär. Die Literaturwissenschaft erkannte an Werken wie Iwein bestimmte feste Muster, welche unter anthropologischen, zu strukturellen bis hin zu gendertheoretischen Aspekten betrachtet werden können. Alle diese Theorien zu beschreiben ist ein Vorhaben, das aufgrund der schieren Fülle an Wissenschaft zum Scheitern verurteilt ist. Dieses Essay will sich auch gar nicht dazu anmassen, einen vollständigen Überblick über die ältere Deutsche Literatur zu geben. Vielmehr will ich mich auf bestimmte Aspekte des höfischen Romans konzentrieren, die erstaunlicherweise bis in unsere moderne Welt der Fantasy-Videospiele hineinragen. Als bestes Beispiel bietet sich dafür das 1991 erschienene The Legend of Zelda: A Link to the Past für den Super Nintendo an. Ein Vergleich des Spiels mit der MA-Literatur soll zeigen, dass bestimmte Muster eines klassischen Artusromans auch in Zelda wiederzufinden sind und als versteckte Mittel dienen, um im Spieler bestimmte Wirkungen auszulösen.
Âventiure und doppelter Kursus
Bevor wir uns in die Analyse der Form von Ganons Hauer stürzen, sollten wir uns die höfischen Hintergründe noch einmal verinnerlichen. Wie ist ein klassischer Artusroman aufgebaut? Wie funktioniert das Prinzip der âventiure, des doppelten Kursus, der Verlust von Ehre und ihre Wiederherstellung? Um die „Basics“ aufzufrischen, soll der „Iwein“-Roman von Hartmann von Aue als Exempel dienen. Titelfigur Iwein ist, wie sollte es auch anders sein, ein junger, unerfahrener Ritter am legendenhaften Artushof. „Legendenhaft“, weil die anfängliche Beschreibung der höfischen Idylle als lang vergangener, idealer Zustand eines Hofes beschrieben wird, nach dem sich „heutige“ Höfe (d.h. um 1200) richten sollten. An Hofes-„vreude“ – die Hochgestimmtheit, nach der alle Höflinge streben – herrscht kein Mangel: An einem gerade stattfindenden Fest wird getanzt, gesungen, gelacht und Wein getrunken. Wir treffen den Helden Iwein, den Lästermaul-Ritter Keye und Kalogreant beieinander sitzend an. Kalogreant erzählt eine Geschichte über eine âventiure, die er erfolglos bestritt. Eingebettet darin ist praktischerweise gleich die einzige bekannte âventiure-Definition. „âventiure, waz ist daz?“, fragt ihn ein Waldmensch. „daz will ich dir bescheiden baz“, antwortet er. „Nû sich wie ich gewâfent bin. Ich heizze ein rîter und hân den sin, daz ich suochende rîte einen man, der mit mir strîte, und der gewâfent sî als ich.“ Auf gut Neudeutsch: Sieh, wie ich bewaffnet bin. Ich bin ein Ritter und habe die Absicht, umherzureiten auf der Suche nach einem Mann, der mit mir kämpft und der ebenso bewaffnet ist wie ich(1). „daz prîset in und sleht er mich. Gesige aber ich im an, sô hât man mich fur einen man und wirde werder danne ich sî.“ Wenn er mich besiegt, trägt es ihm Ruhm ein. Wenn aber ich ihn schlage, dann hält man mich für einen ganzen Kerl, und mein Ansehen ist noch grösser als jetzt. „sît dîn gemuete stêt alsô daz dû nâch ungemache strebest […]“, erwidert der Waldmensch. Du strebst also nach Ungemach, Anstrengung. So weit der etwaige Wortlaut. Diese „Definition“ ist in der Literaturwissenschaft nach wie vor ein Streitpunkt: Manche halten sie für zutreffend, andere für zu ungenau, simpel und verschwommen. Sucht ein Ritter, der auf âventiure aus ist, bloss einen „kämpfenden Mann“? Ist er nur auf seine eigene Ehre aus, oder strebt er auch danach, die von anderen (meistens die der übrigen Artusritter) zu erhöhen? Ganz plakativ könnte man âventiure wohl einfach mit „Abenteuer“ übersetzen. Ein Abenteuer – ja, das Ungemach, Mühsal mit sich bringt, sei es, um die eigene Ehre zu erhöhen oder für andere zu kämpfen. Wie dem auch sei, Kalogreant wird nachfolgend vom Waldmenschen auf einen Stein verwiesen, der ja nicht begossen werden soll, oder ebenjene Mühsal würde ihn ereilen. Kalogreant geht umso eifriger hin, begiesst den Stein mit Wasser, wird prompt von einem Unwetter heimgesucht und einem Ritter, der ihn vom Pferd stösst und verletzt liegen lässt. Diese Anekdote ist Grund genug für Iwein, ganz wie ein Mann zu handeln und auf eigene Faust auszureiten, um die Ehre von Kalogreant zurückzufordern und zugleich seine eigene zu erhöhen. Es setzt der viel beschriebene „doppelte Kursus“ ein. Nach verschiedenen Abenteuern (zweigeteiltes Pferd, anyone?) gelingt es ihm tatsächlich, den Ritter zu erschlagen, dessen Ehefrau und ein ganzes Land für sich zu gewinnen – like a boss. Dieser Kursus würde aber natürlich nicht doppelt heissen, wenn nicht ein zweiter âventiure-Weg hinzukäme. Den tritt Iwein an, nachdem er dummerweise die Jahresfrist überschreitet, die ihm seine Frau Laudine auferlegte, um mit Gawein auf Turniere zu reiten. Ähnlich wie Erec, der sich mit Enite „verligt“, verliert er sein Ansehen, indem zu lange „tuornieret“ und dabei vergisst, zu Laudine zurückzukehren. Prompt erhält er von ihrer Zofe Schimpf und Schande, wird wahnsinnig und lebt im Wald bei den Tieren. Erst nach einem erneuten, langen Leidensweg (Kampf gegen einen Drachen usw.) ist es ihm möglich, Laudines Gunst wiederzuerlangen und den zweiten âventiure-Kursus abzuschliessen. Über Hartmann von Aues Werk spannen sich also zwei grosse Bögen, die vom anfänglichen Gewinn, anschliessendem Verlust und endlicher Wiedergewinnung des Idealzustandes erzählen. „Idealzustand“ heisst für ihn aus heutigen Gesichtspunken: Frau, Land, Liebe, Freude, Eierkuchen. Damals hiess es: hohes „Ansehen“. Einem ähnlichen Muster folgt auch Wolfram von Eschenbachs Parzival, wenn auch mit leicht veränderten Parametern. Als Dreh- und Angelpunkt des doppelten Kursus dient hier der sagenumwobene Gral in der Burg Munsalvaesche. Nach einer langen Suche nach dem Gral (der gar nicht gefunden werden kann, wenn man nach ihm sucht – shit happens) findet Parzival ihn zwar, versäumt es aber, König Anfortas die berühmte „Mitleidsfrage“ zu stellen und verlässt die Burg unter lautem Gejammer der Diener. Deshalb kommt die hässliche Hexe Cundry bei Parzival zu Besuch und verflucht ihn. Erneut muss er sich auf die Suche nach dem heiligen Gral machen und in einem zweiten Anlauf weitere âventiure bestehen – der zweite Kursus. Gut. Und was hat das jetzt alles mit Zelda: A Link to the Past zu tun?
Triforce und Meisterschwert
Weg von der Literatur- hin zur Videospielgeschichte. A Link to the Past ist wohl das Spiel mit einem der berühmtesten Anfänge. Held Link erwacht in einer stürmischen Nacht, geweckt von Prinzessin Zeldas flehender Stimme. Hilfe, Hilfe, ich bin in der Burg des bösen Zauberers Agahnim gefangen. Warum müssen Zauberer immer böse sein, warum Prinzessinnen in Not? Egal. Links Onkel – was, der hat einen Onkel? – scheint die Stimme auch gehört zu haben und macht sich auf, sie zu retten. Dumm nur, dass er es bloss bis knapp vor die Haustür schafft. Was? Zu gemein? Dann schafft er´s eben bis in die Katakomben unter dem Burghof. Was nichts am Unvermeidlichen ändert: Jüngling Link macht sich selbst auf die Socken, blind der Stimme in die stürmische Nacht hinaus folgend. Er beseitigt einen Busch vor der Burgmauer, wo ein Geheimgang zum Vorschein kommt, der in den Burghof führt. Unterwegs trifft er seinen sterbenden Onkel, der ihm Schwert, Schild und einen nützlichen Tipp für eine Spezialattacke mitgibt, bevor er das Zeitliche segnet. Danke, Onkel. Ab jetzt gilt es ernst: Link kämpft sich durch eine Reihe von dick gepanzerten Burgwachen zu den Verliesen vor. Nur gut, haben sie keine besonders flinke Hand im Umgang mit dem Schwert. Besonders nützlich auch die bodenlosen Abgründe, die nur dazu da sind, Gegner ins Nirwana zu schubsen. Bei den Verliesen angekommen, wartet nochmals ein härter Brocken mit Morgenstern auf Link (oder auf meine Daumen). Als auch der klein bei gibt, steht der Rettung der Prinzessin nichts mehr im Weg – ausser ein paar eklige Ratten. Link leitet seine reizende Begleitung also durch die Kanalisation, bis sie endlich im „Sanctuary“, dem Heiligtum angelangt sind, wo die Prinzessin sicher und eine erste Verschnaufpause angesagt ist.
Nun muss Link – halt, habe ich nicht etwas vergessen? Ja, die Hintergrundgeschichte (die lässt sich in der SNES-Version einfach skippen). Prinzessin Zelda ist nämlich nicht your average girl next door, sondern Urururenkelin eines der weisen Gelehrten, welche in einer längst vergangenen Zeit den Eingang zum sagenumwobenen Goldenen Reich versiegelten. In diesem Goldenen Reich soll sich angeblich das geheiligte Triforce befinden, die Quelle grosser Macht. Viele tapfere Ritter hatten schon versucht, es aufzuspüren, aber nie ist jemand aus dem Goldenen Reich zurückgekehrt. Agahnim will nun mithilfe von Zelda, eine der letzten Nachkommen der Weisen, das Siegel brechen, um seine gierigen Klauen um das Triforce zu schliessen … im Licht von Iwein, Parzival und co. bekommen wir, wie es scheint, mit einem Mal einen anderen Blickwinkel auf die Dinge. Schon angefangen beim Titel, The Legend of Zelda, die Legende. Was ist denn diese Legende von den Weisen, die über das blühende Reich Hyrule wachten, anderes als eine Reminiszenz an den Idealzustand eines Artushofes? Was ist das Triforce, wenn nicht der heilige Gral, der nie gefunden wurde? Was Agahnim, wenn nicht die Provokation von „ausserhalb“, der man standhaft begegnen muss? Elemente wie diese finden sich in vielen Fantasyspielen, in Zelda scheinen sie aber nochmals in grösserer Prägnanz aufzutreten. Das geht in A Link to the Past bis in die Details des Spielverlaufs. Nach dem Auftakt, der mit der Rettung der Prinzessin endete, geht es in einen ersten Kursus über, dessen Ziel es ist, das Meisterschwert zu finden, das tief im nebligen Wald schlummert. Zu einfach wäre es, wenn Link es einfach so aus dem Stein ziehen könnte. Nein. Bevor das geschieht, wird er auf Bewährungsprobe in vier verschiedene Dungeons geschickt. Und ich glaube, ich wage mich nicht zu weit vor, wenn ich behaupte, man könne jedes einzelne Dungeon mit einer klassischen âventiure vergleichen. Kann eine solche im Rahmen eines Parzival oder Iwein auch nur darin bestehen, einen Drachen zu besiegen, stellt Zelda einen vor besondere „ungemache“. In jedem Dungeon wollen unzählige Rätsel gelöst, Gegner besiegt und Gegenstände erworben werden. Die besondere Mühsal wird jedes Mal mit einem besonderen Gegenstand belohnt – ein Gameplay-Kniff für das Belohnungszentrum im Hirn. Nachdem nun Link alle Amulette erlangt hat, ist es an der Zeit, das Meisterschwert aus dem Stein zu ziehen. Schlimm: Zugleich wird Prinzessin Zelda von Agahnim entführt. Was jetzt? Link bleibt nichts anderes übrig, als das oberste Stockwerk des Burgturms aufzusuchen und sich Agahnim endgültig zu stellen. In einem ersten Höhepunkt des Spiels schafft er es, den Zauberer zu besiegen – nicht aber, Zelda zu retten. Wie Parzival: Der schafft es, die Gralsburg zu finden, nicht aber, Anfortas zu erlösen. Zwangsläufig kommt das, was wir alle schon geahnt haben. Link tritt den zweiten Kursus an, mühseliger und noch ungemächlicher als der erste, da er sich in die Schattenwelt verbannt sieht – gewissermassen von Agahnim „verflucht“. Bis er Prinzessin Zelda erneut zu befreien vermag, ist es ein weiter Weg. Aber auch der ist einmal zu Ende, Link besiegt Ganon und stellt mithilfe des Triforce den Idealzustand erneut her – wenn auch nicht einen strikt „höfischen“.
Eine Frage der Ehre
Bleibt die Frage, wofür Link all die âventiure auf sich nimmt. Sucht er Ehre? Für sich? Für Zelda? Wofür? Er ist, und das mag der grösste Unterschied sein, im Gegensatz zu den Artusrittern in kein gesellschaftliches System mit höfischen Regeln und Sitten eingebunden. Seine einzige Regel ist die des einsamen Helden, der zum Glück der Spieler nicht davor zurückschreckt, auf Kommando jeden noch so garstigen Boss zur Strecke zu bringen. Wie viele Videospielhelden leidet er im Grunde genommen unter jener Beziehungslosigkeit, die im Artikel zu Lovecraft schon zur Sprache kam. Der Überbau der Handlung hängt am losen Faden der Rettung der Spielewelt. Einer Welt, die einem übrigens wie in jedem Zelda nach und nach durch ihre Beschaffenheit ans Herz wächst. Fragen wir aber noch einmal bohrender nach: Lässt sich ein Ritterroman und ein Videospiel aus dem Jahr 1991 einfach so vergleichen? In vielen Belangen, und das ist klar, unterscheiden sich die beiden Kulturerzeugnisse voneinander. Was wir gefunden haben, sind wohl weniger konkrete Gemeinsamkeiten, sondern vielmehr Spuren, die einen zum Faszinosum führen, die ein Zelda, aber auch so manches Rollenspiel aufweist. Sei es die Legendenhaftigkeit, die „âventiure in Form von Dungeons“ oder der Doppelweg: selbst wenn diese Mechanismen in Zelda nur noch wenig mit der Artuswelt gemeinsam hätten, gerade diese Dinge machen dem Spieler das Spielerlebnis schmackhaft und spannend – neben den designtechnischen Mitteln wie das ausgeklügelte Belohnungssystem oder die sehr starke Zahlensymbolik. Die heutige Form der âventiure finden wir deshalb, so meine ich, in den rollenspieltypischen Quests wieder. Ab und zu erwerben wir sogar Ruhmpunkte für unsere heldenhaften Taten, oder NPCs sind uns wohlgeneigter, nachdem sie davon hören, wir hätten einen Drachen erschlagen. Nichtsdestotrotz lohnt es sich für jeden Fantasy-Enthusiasten, einmal hinter die Kulissen zu blicken und einen Artusroman zur Hand zu nehmen. Zwerge hausen in Höhlen? Drachen bewachen Schätze? Jungfrauen tragen geschmackvolle Farbkombinationen? Alles Klischees – die in dieser Form nie wirklich im Artusroman aufgetaucht sind. Dafür lag Gawein in einem umherfahrenden Bett. Echt jetzt.
(1) Der mittelhochdeutsche Text und die Übersetzung folgen der Reclam-Ausgabe des Iwein 2011.
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