Von JÁNOS MOSER.
Minne: die höfische Form der Liebe, in der ein bemitleidenswerter Ritter um die Gunst einer ewig unerreichbaren Dame wirbt. Was jetzt auf uns zukommt? Nichts Schlimmes. Denn der treue FF-Leser erinnert sich: bereits vorletztes Jahr tauchten wir in diesem Artikel in die Welt der höfischen Artusromane ein. Was das Ganze mit Zelda zu tun hat, wissen wir ja schon. Dass wir im Mittelalter bereits ein ganzes Brimborium an abgesteckten, nicht aber rigiden Genres haben, ebenfalls. Da gibt es eben auch die sogenannten „Minnereden“. Hatte schon Heinrich von Veldeke im berühmten Minnegespräch des Eneasromans das deutsche Publikum mit der höfischen Liebe bekannt gemacht, waren es erst die Texte des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, welche die Minne zum Gegenstand von Frage- und Antwortspielchen machten. Zu diesem Zeitpunkt konnte das adelige Publikum schon auf eine ganze Reihe von kanonischen Dichtungen wie den Tristan oder Erec zurückblicken. Der Inhalt der „Reden“ war meist ähnlich gestrickt: Ein Jüngling im zarten Mannesalter (oder umgekehrt?), der unglücklich um die Liebe einer Dame wirbt (oder mhd. Ihr „dienen“ will), verirrt sich in den Frühlingsmonaten in das Reich der Venus. In diesem oft als Kloster, Burg oder Venusberg dargestellten Reich richtet die Göttin der Liebe bzw. allegorisch „Frau Minne“ zusammen mit ihrem Herrscherstab (Frau Streue, Frau Stete, Frau Zucht, Frau Ehre …) über das Schicksal des Jünglings. Dabei geht es meist um moralische Anweisungen oder Belehrungen. Das Leben in diesem Venusreich präsentiert sich als Idealform des höfischen Zusammenlebens. Es wird getanzt, gesungen und auch gespielt. Und hier wird’s erst richtig interessant: denn es lässt sich vermuten, dass zumindest manche dieser Gedichte selbst als „Spielanleitungen“ oder Instrumentarium für eine Art Rollenspiel rezipiert und vorgetragen wurden. Dungeons & Dragons im Mittelalter?
Au roi qui ne ment
Direkte Hinweise zum Verwendungskontext gibt es im deutschsprachigen Raum nicht. Die Tatsache, dass sich etwa Ulrich von Liechtenstein bei seinen Reisen als „Artus“ oder „Königin Venus“ verkleidete, legt immerhin eine Lust am Repräsentieren verschiedener Sagengestalten nahe. Manchmal, wie beim Text „Minne und Gesellschaft“ (1325), werden auch historisch verbürgte Gesprächspartner genannt. Zwei Frauen streiten sich bei der Lektüre des Tristan-Romans um die Frage, ob der Gesellschaft oder der bedingungslosen Zweierbeziehung der Vorzug zu geben sei. Die Frage wird zwölf Rittern vorgelegt, darunter Johann, König von Böhmen. Schliesslich richtet sich die Frage ans Publikum, was wohl zu einer Abschlusskommunikation führen soll. In Frankreich gibt es deutlichere ausserliterarische Bezüge. Nicht nur weisen die als „jeu-parti“ bezeichneten Texte deutlichen Spielcharakter auf – als Dichterwettkampf über eine (Liebes)Streitfrage mit abschliessendem „Gerichtsurteil“ – es gab auch richtige „Minnehöfe“, in denen unter einem Spielleiter Minnefragen zu beantworten und zu diskutieren waren. Die „Cour amoureuse dite de Charles IV.“ wurde im Jahr 1400 ins Leben gerufen. Urheberin war vermutlich Isabeau de Bavière, die den Jahreswechsel 1399/1400 in ihrer Residenz in Nantes verbrachte, um der in Paris ausgebrochenen Pest zu entgehen. Ähnlich wie im Decamerone vertrieb sich die höfische Gesellschaft währenddessen die Zeit mit sorgenfreien Aktivitäten, darunter eben dem „Cours“. Die „Statuten“ dieses Minnehofs weisen jedem Mitspieler seine Rolle zu. Neben drei „Grosskonservatoren“ gibt es rund vierundzwanzig Minister und den Minnefürst selbst. Einmal im Monat soll man sich treffen, um ein Fest abzuhalten und im Dichterwettkampf die Damen ehren. Hinzu kommen gestellte „Minnefragen“ mit ihren entsprechenden Urteilen. Dieses auch als „au roi qui ne ment“ bekannte Urteilsspiel war vermutlich auch der Kontext eines von Hofmeister Amé Malingre um 1408 verfassten Gedichts, in dem der Ich-Erzähler die Minneklage einer Dame an einundzwanzig Minister weiterreicht. Man hat es also mit höfischen Selbstinszenierungen zu tun, die „[…]mit solch immensem materiellen und zeremoniellen Aufwand eine Sphäre der spielerischen Überformung der lebensweltlichen Wirklichkeit nach literarischen Mustern betreiben, dass zwischen Literatur und Spiel auf der einen Seite sowie Politik und Ernsthaftigkeit auf der anderen kaum noch mit sicherer Hand eine Trennlinie gezogen werden kann.“ (1)
Spieleteppich
Das Spielen mit literarischen Vorlagen, die das Argumenationsmaterial für die inszenierten Streitfälle bereitgestellt haben mochten, war ein Teil. Nicht vergessen sollte man darüber aber, dass es auch durchaus ganz körperliche Spiele an den Höfen gab. Das wohl berühmteste bildliche Zeugnis für solche Aktivitäten liefert der sogenannte Spieleteppich, ein gewebter Wandbehang aus dem 15. Jahrhundert. Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg erwarb den aus dem Mittelrheingebiet stammenden Teppich im Jahr 1857. Auf ihm ist eine höfische Gesellschaft abgebildet, die unter anderem verschiedenen Spielen nachgeht. Nebst einem der erwähnten Minnegerichte wird ein „Quintana“-Spiel abgehalten, „den Dritten schlagen“ und das „Schinkenklopfen“. Beim „Quintana“ oder auch „Fussstossen“ genannten Spiel sitzt die Dame auf dem Rücken eines Mitspielers und versucht mit erhobenem Fuss die Angriffe eines weiteren Spielers abzuwehren, der sie mit einem gezielten Fussstoss zu Fall bringen muss. „Den Dritten Schlagen“ ist eine Variante des „Fangis“, in dem man um einen Kreis von Paaren herumrennen muss und seinen Verfolger abschüttelt, indem man in eine vorhandene Lücke schlüpft. Das Vergnügen im „Schinkenklopfen“ schliesslich besteht darin, dass ein Spieler mit verdeckten Augen erraten muss, wer ihn geschlagen, d.h. auf den „Schinken“ geklopft hat. Dürfte Letzteres ein zweifelhafter Spass sein, wird aufgrund der Abbildungen zumindest klar, dass hier nicht einfach nur um harmlose Kinderspiele handelte, sondern durchaus ein wenig „Minne“ im Spiel war. Die Spruchbänder bei dem Quintana-Paar lesen sich denn auch: „Din stosen gefelt mir wol, lieber! Stos, als es sin sol.“ (die Dame) – „Ich stes gern ser, so mag ich leider nit mehr.“ (der Mitspieler). Beim „Minnegericht“, das in einem umzäunten Bereich stattfindet, hantiert eine Frau an den Fesseln eines Mannes herum (der sagt: von dinen handen lig ich in banden“). Und beim „Schinken“ handelt es sich im Bild natürlich um ein Gesäss. Nicht zufällig waren die Spiele des Mittelalters häufig der einzige Rahmen, in dem sich die Leute relativ unverfänglich näher kommen konnten. Im Hintergrund des Bildes sind typische Elemente der „Minnereden“ wie ein Kloster und eine Burg zu sehen. Indes zeigt es wohl nur einen kleinen Teil der Vergnügungen – in der Minnerede „Der Tugenden Schatz“ (1459) von Meister Altswert sind nicht weniger als 54 (Paar)Aktivitäten aufgelistet, denen Venus und ihre Genossen nachgehen. Wie gewöhnlich soll der Hof dabei „vreude“ erlangen.
Spiel mit den Metaebenen
Schon sind wir frei durch Text und Bild galoppiert, jetzt darf auch ein bisschen Meta nicht fehlen. Was an den Minnereden, aber auch an der älteren Lyrik deutlich wird, ist das immer wieder durchscheinende Spiel der Autoren mit der Gemachtheit des Textes. Kein geringerer als Walther von der Vogelweide machte es in seinem „sumerlaten“-Lied vor. In der zweiten Strophe heisst es:
Hoeret wunder, wie mir ist geschehen
von mines selbes arebeit.
Mich enwil ein wip niht an gesehen,
die braht ich in die werdekeit,
daz ir muot so hohe stat.
jon weiz si niht, wenn ich min singen laze, daz ir lop zergat.
Auf Neudeutsch: „Hört, wie es mir durch mein Bemühen wunderlich ergangen ist. Mich will eine Frau nicht mehr anschauen, der ich zu hohem Ansehen verholfen habe, sodass sie hochgestimmt ist. Wahrlich weiss sie nicht: wenn ich mein Singen lasse, zergeht ihr Lob.“ Am Ende der zweitletzten Strophe steht: „Nimet si mich von dirre not, ir leben hat mines lebennes ere: stirb ab ich, so ist si tot.“ Soll heissen: „Befreit sie mich von der Qual, hat ihr Leben die Ehre meines Lebens; sterbe ich aber, ist sie tot.“ Der Tenor wird deutlich: sobald der Sänger, also Walther, zu singen aufhört, ist die Dame nichts mehr wert – oder eben: sie „verschwindet“, da literarische Fiktion. Interessant mitzuverfolgen sind indes die immer wieder auftauchenden ironischen Spitzen Walthers gegen Reinmar den Alten, der die klassische Minnekonzeption des dienenden Ritters und der ewig unerreichbaren Dame vertrat. Epic Rap Battle of History, sozusagen. Jedenfalls schliesst sich aus Walthers Lyrik, aber auch aus allem Vorangegangenen, dass sich das höfische Publikum mit ziemlicher Sicherheit des Spielcharakters der Minne bewusst war, sobald sich einmal ihre Konventionen etabliert und gefestigt hatten. Das Besondere an dieser literarischen Form der Liebe war, dass sie ewig unerreicht bleiben musste, um ihre eigenen Regeln nicht selbst zu zerstören.
(1) Zander-Seidel, Jutta (Hg) 2010: Der Spieleteppich im Kontext profaner Wanddekoration um 1400, Nürnberg: Verlag des Germanischen Nationalmuseums, S. 81.