Freies Feld

Das Napoleon-Spiel

Von CÉDRIC WEIDMANN.

Wenn Schriftsteller sich mit Spielen auseinandersetzen werden wir hellhörig. Bei H. G. Wells und beim Realitätenspiel von Lem haben wir uns deshalb diesen alten Medien — den Büchern — gewidmet. Weshalb? Die Sache ist die: Das Konzept des Spiels ist sehr frei. Wittgenstein hat das gezeigt. Man kann es nicht festlegen. Umso interessanter aber ist es, zu sehen, wie das Spiel verstanden wird. Es ist klar, Spiel hat nicht schon immer das Gleiche bedeutet, der Begriff ändert sich im Laufe der Zeit. Das hat schon damit zu tun, dass die Auffassung von Zufall (oder eben Schicksal, Fügung etc) sich immer wieder verschoben hat. Wie werden Spieler gesehen und was sind Spiele? Bücher zeigen uns das für die Vergangenheit — vielleicht wird es in der Zukunft vor allem von Videospielen thematisiert werden.
Neben den oben genannten ist auch Christoph Heins »Napoleon-Spiel« gutes Anschauungsmaterial. Hein entwirft in diesem 1993 erschienen kleinen Buch die Figur eines absoluten Spielers, eines Mannes, der nicht zum Gewinnen, nicht um Geld, sondern nur zum Spielen spielt. Der französische Feldherr, nicht wie im Napoleonspiel von Wilhelm Busch, sondern als Figur, ist dabei das Vorbild: Ein Spieler, der immer spielte, selbst wenn er (in Russland) grösste Verluste einräumte. Ein geeignetes Bild des Spielers: Ist doch Napoleon mit dem Spiel auf vielfältige Weise verknüpft. Nicht nur, wie Hein beschreibt, als Spieler im politischen und militärischen Sinn, sondern auch als Schach-Spieler, dessen berühmte Partien heute noch nachzulesen sind.

Der Spieler, der ultimative Spieler

Die Hauptfigur (und zugleich der Erzähler) von Heins Buch, die diesem Vorbild nachstrebt, ist jedoch kein Feldherr. Diese Spiele seien vorbei, findet sie, man müsse neue finden. Und tatsächlich, hochnäsig erklärt diese Hauptfigur gleich zu Anfang, dass sie einen Mord (oder, wie sie es lieber nennt: eine unerlässliche Tötung) begangen hat. Dieser Spieler fürchtet sich nicht vor einer Verurteilung, denn er weiss schon von Anfang an, dass alles glatt läuft. Er wird nicht belangt werden können, denn dieses Spiel ist perfekt durchgeplant. Das eröffnet der Erzähler schon auf den ersten Seiten des Buches, denn das Buch selbst ist ein Brief an seinen Verteidiger, in dem er seine Tat erläutert. Den Mord hat er begannen aus reinem Spieleifer, um das Spiel der Justiz auszutricksen, die ihn schliesslich freilassen muss: Denn ihm fehlt jedes Motiv. Das Motiv des Spielers ist nicht akzeptabel als Motiv für einen Mord, es fügt sich nicht in die Logik des Gerichts, deshalb wird er freigelassen.
Den Mord plant er am Billardtisch: Das perfekte Spiel für ihn. Er ist vernarrt und übt seinen Mord schliesslich auch mit dem Queue aus. Der Spieler ist instabil: Ständig braucht er ein neues Spiel, das ihm einen grösseren Reiz verschafft. Sein Leben stürzt in Depressionen, wenn er es unterlässt. Der Spieler als der Traurige — ein Bild das wir so selten gesehen haben, denn meistens gehören die Spieler ja zu denen, die Unterhaltung geniessen. Es gibt jedoch ein Beispiel: Dostojewskijs »Der Spieler« zeigt die Abgründe dieses fanatischen Spiels, die Farblosigkeit, die die Spielsucht dem Leben verleiht. Dieses Thema aus einem durch und durch spielsüchtigen Russland, variiert Hein, indem er einen Einzelkämpfer — einen Einzelspieler — in den Vordergrund rückt. Diese Figur ist faszinierend, denn er lebt jene Form von intellektuellem Aristokratismus, die wir aus einem anderen Dostojewskij kennen: Wie in Verbrechen und Strafe beruft sich auch hier die Hauptfigur auf Napoleon, wie dort fühlt sie sich zu höherem Berufen und tötet. Die Hauptfigur sieht abfällig lächelnd auf alle herab, die einen ›echten Wert‹ im Leben sehen. Das Spiel ist ihm alles.

Der Text = ein Spielzug in einem grösseren Spiel

Das Faszinierende an der Geschichte ist, dass der Brief — wie sich am Ende zeigt, sind es zwei Briefe — Teil des Spiels ist, der Text beschränkt sich also nicht auf die Beschreibung eines Spiels. Indem er zeigt, wie die weiteren Dinge verlaufen werden, ist für uns (Leser) klar, wie der intendierte Leser — der Strafverteidiger — handeln wird. Dadurch erkennen wir die gesamte Strategie des Erzählers und müssen einsehen, dass sein Spiel gut geplant ist. Das treibt Hein noch auf die Spitze, indem er seinen Erzähler sagen lässt, er werde den Brief später unter dem Namen eines Schriftstellers (also Christoph Hein) veröffentlichen lassen. — Ein Spiel mit der Fiktionalität, das weiter geht, als die allermeisten anderen Bücher.

Spieldefinition ex negativo

Was das Spiel angeht, so findet man darin einen eigenen Ansatz zur Definition. Sie ist jedoch eine Spiel-Definition ex negativo: Lotterien und Glücksspiele sind keine Spiele. Wettrennen sind keine Spiele. Und so weiter.
Diese Einschränkungen sind manchmal klug, insgesamt stellt sich aber das Gefühl ein, dass der Erzähler sein eigenes Spielkonzept nicht kennt, was seine Arroganz nur einmal mehr bestätigt. Am Ende schliesst das Buch mit dem Diktum: Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Jenes Zitat aus dem 15. Ästhetischen Brief von Schiller, das hier den Grundstein legt. Hein hat ein Konzept eines Spielers ausprobiert, bei dem das Spiel nicht — wie bei Huizinga innerhalb eines Magic Circles vonstatten geht —, sondern auf das ganze Leben übergreift. Er hat das Zitat von Schiller auf perfide und makabere Art durchgespielt. Vom spielwissenschaftlichen Ansatz her bleibt aber eine genau Definition auf der Strecke. Viel wichtiger ist der Beleg, dass 1. in Bücher gespielt wird — also auch mit den Texten, wie in diesem Fall mit dem Brief, ein Spiel gespielt wird — und 2. das Spiel einen Sog hat, der nicht nur heiter ist, der übergreift, der ernstzunehmen ist, und zeigt, warum Huizinga vom Heiligen Ernst des Spiels spricht.

Dieser Beitrag wurde von Cedric Weidmann geschrieben und am 21. September 2013 um 17:05 veröffentlicht. Er ist unter Links und Tipps abgelegt und mit , , , , , , , , , , getaggt. Lesezeichen hinzufügen für Permanentlink. Folge allen Kommentaren hier mit dem RSS-Feed für diesen Beitrag.

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