Freies Feld

Espen J. Aarseth

Von CÉDRIC WEIDMANN.

Espen J. Aarseth gehört zu den wichtigsten zeitgenössischen Pionieren in den Game Studies. Er war Professor des selbstgegründeten Lehrstuhls “Humanistic Informatics”. Was klingt, als käme es aus einer Lem-Kurzgeschichte ist wahr: Humanistic Informatics ist der Bezug auf die digitale Welt über geisteswissenschaftliche Aspekte. Aarseths Ruhm begründete das 1997 erschienene Buch “Cybertext: Perspectives on Ergodic Literature”. Seither arbeitet er in Kopenhagen und für die beiden massgeblichen Zeitschriften Game Studies und G|A|M|E.

Cybertext – am PC oder am Strand?

Aarseths Schachzug liegt darin, dass er — anders als die anderen (das heisst sowohl die frühen Wegbereiter und Definitionssucher wie Huizinga als auch die aktuellen Forscher, die das Spiel von der Literatur und anderen Wissenschaften emanzipieren wollen, wie Juul) — seine Untersuchungen von den Medien loslöst. Klar ist es das digitale Zeitalter, das uns mit neuen Fragen zu Spielen und auch Literatur konfrontiert. Aber es ist nicht der Unterschied digital/analog, den man machen muss. Aarseth zeigt das auf verschiedene Weisen. Zum Beispiel in seinem sehr gelehrten Kapitel über Computersemiotik, das sehr vorsichtig und unscheinbar ein heftiges Fazit zieht: Die Semiotik gibt es gar nicht! Denn gerade bei Computern, wo Zeichen angezeigt werden, unter denen andere Zeichen (Programmcode) liegen, und diese Zeichen auch — zum Beispiel — zufällig generiert werden können, ist der Begriff der Semiotik am Ende.

Ergodische Literatur

Das ist aber keineswegs das Hauptinteresse für Aarseth. Es geht ihm nicht um die Umstürzung der Linguistik oder Literaturwissenschaft, es geht ihm um “ergodische” Literatur. Ergodisch kommt von den griechischen Wörtern “ergon” und “hodos”, die “Arbeit” und “Pfad” bedeuten. Ergodische Literatur erfordert beim Lesen einen nontrivial effort, um den Text an sein Ende zu bringen. Er versucht diesen nicht-trivialen Aufwand genauer zu begrenzen. Lesen ist für ihn trivialer Aufwand, wobei er vor allem die Bewegung der Augen und das Umblättern von Seiten noch trivial findet (auch die tmesis, das von Barthes benannte Herumhüpfen der Augen während dem Lesen, schliesst er aus). Anders ist es bei Riddle Books und Textadventures, sie benötigen ein Klicken, ein Blättern oder sogar das Eintippen von Sätzen — Videospiele sind, ob Literatur oder nicht, deshalb auch immer ergodisch. Das heisst sowohl das analoge (also ein Buch, bei dem man durch die Seiten irrt) wie auch das digitale Medium (Hypertexts) können Cybertexte sein. Cybertexte zeichnen sich also als erdogische Literatur aus und sind nonlineare Texte.

Aarseth benutzt dazu auch den Begriff des Labyrinths, den er auf Borges, Derrida und Umberto Eco bezieht: Verschiedenartige Abzweigungen eines “Ursprungtextes” führen erst zum Lese-Ergebnis. Das sei wie bei einem Labyrinth. Es gebe auch beim Labyrinth unterschiedliche Formen. Lineare, solche mit mehreren Zielen, oder aber sich verstrickende, die vor dem Ziel wieder zusammenfinden. Auch Cybertexte funktionieren auf diese Weisen.

Scriptons und Textons

Ausserdem benutzt Aarseth eine eigene Unterscheidung, die wohl zu den wichtigsten und bemerkenswertesten gehört: Er unterscheidet scriptons und textons. Sein Beispiel Cent mille milliards des poèmes ist ein Gedicht-Generator, mit dem noch nie dagewesene Gedichte generiert werden können.

there are only 140 textons but these combine into 100,000,000,000,000 possible scriptons. [S. 62]

Das heisst die ursprünglichen Textbestandteile sind textons, die sich zu Informationen zusammenfügen (Aarseth unterscheidet hier — und das ist das einzige Problematische daran — den Text von der Information, die er übermittelt). Und diese strings of information bilden dann scriptons heraus. Beim normalen Lesen falle diese Unterscheidung überhaupt nicht ins Gewicht.Wenn man Krieg und Frieden lese, sagt Aarseth, glaube man immer Krieg und Frieden zu lesen.

Aber bei Cybertexts ist ein Unterschied nicht zu leugnen: Der Leser ist sich immer der Tatsache bewusst, dass er nur einen Teil erblickt, dass er mit jeder Handlung die Möglichkeiten des Texts einschränkt oder ausweitet: dass er den grössten Teil des Textes nie erblickt. Die meisten scriptons werden ihm nie unterkommen. Dies macht auch die Vergleichbarkeit ergodischer Literatur schwierig, wobei man oft auf die textons zurückgreift: Man schaut, was im Satzbaukasten liegt, und beurteilt damit den Text.

Der moderne Pionier

Mit der bahnbrechenden Methode, die Medien als genreprägend abzulehnen und stattdessen Konzepte aufzubauen, die digital und analog gleichermassen funktionieren, hat Aarseth Pionierarbeit geleistet. Mit seiner genauen und fundierten wissenschaftlichen Analysen ist er einer der Hauptverantwortlichen dafür, dass die Game Studies mit jedem neuen Tag ernster genommen werden. Ausserdem ist, wie ich glaube, seine Unterscheidung von textons und scriptons für jeden Spielbetrachter unverzichtbar und er sollte sie im Gedächtnis behalten, um die Komplexität verworrener Texte und Spiele ein wenig entwirren zu können.

Übersicht

****: The Field of Humanistic Informatics and its Relation to the Humanities, http://www.hf.uib.no/hi/espen/HI.html.

1997: Cybertext: Perspectives on Ergodic Literature, John Hopkins: Baltimore.

2001: Computer Game Studies, Year One, http://www.gamestudies.org.

Dieser Beitrag wurde von Cedric Weidmann geschrieben und am 23. Januar 2013 um 13:07 veröffentlicht. Er ist unter Die Bibliothek abgelegt und mit , , , , , , , , , , getaggt. Lesezeichen hinzufügen für Permanentlink. Folge allen Kommentaren hier mit dem RSS-Feed für diesen Beitrag.

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