Von CÉDRIC WEIDMANN
Robert Pfaller ist ein österreichischer Philosoph, der im deutschsprachigen Raum immer wichtiger zu werden scheint. Zu verdanken ist diese Entwicklung einem Querdenken, das zwar akademisch ist, aber doch manchen vor den Kopf stösst, und der Wahl seines Themas: In der Hauptsache geht es ihm um das Verdeckte der Kultur, die hervorbringt, was sie eigentlich vergraben will, unsere Kultur, die die Lust verbietet (Zigaretten, Völlerei, Alkohol usw.) und im selben Zivilisationsprozess aber das Verbotene woanders sucht. So zumindest stellt sich die ungefähre Richtung seiner populären Bestseller dar. Für die Spielwissenschaft am interessantesten ist dabei ein konkretes Werk.
Interpassivität — das Auge der Kamera erspart das Sehen
»Die Illusionen der anderen« (2002) hat diesen Weg vorbereitet und das Thema auf einer theoretischen und medialen Ebene abgewickelt: Die Interpassivität ist Schlagwort und Ausgangspunkt der gesamten Untersuchung. Das Konzept ist jedoch nicht allein auf seinem Mist gewachsen, sondern von Zizek in Umlauf gebracht worden. Die Interpassivität entwickelt Zizek aus Lacans berühmtem Antigone-Seminar, dort bemerkt Lacan, beiläufig zwar, aber bestimmt, dass der Chor in der griechischen Tragödie, der zwischen den einzelnen Akten auftaucht, für das Publikum nicht nur untermalende Wirkung hat, sondern die Emotionen den Zuschauern geradezu abnimmt: Der Chor lacht, weint, klagt für den Zuschauer, damit dieser es nicht tun muss.
(Das unheimlichste Beispiel ist das obige Video von David Lynch — gerade dem Konservengelächter fällt dabei die zentrale Rolle zu.)
Zizek und Pfaller verfolgen diesen Weg bis zum »canned laughter«, dem Konservengelächter, das in Sitcoms aus dem Fernseher schallt: Es könnte doch sein, dass dieses Lachen nicht dazu da ist, mit Lachen den Zuschauer anzustecken, sondern vielmehr für ihn zu lachen! Dies lässt sich weiterspinnen: Man filmt das Leben mit Kameras, um es nicht zu sehen, geschweige denn später anzuschauen, und in einem jüngeren Text von mir, habe ich ein ähnliches Bild verwendet, um aus dem Scannen eines Buches ein Lesen zu machen — gerade das ist Interpassivität.
Die Illusionen ohne Eigentümer
Mit »Die Illusionen der anderen« treibt Pfaller den Begriff der Interpassivität jedoch weiter und wendet ihn, sehr geschickt, indem er immer wieder die Alltagssprache auseinandernimmt, auf grössere Bereiche an: Es gibt Dinge, die man nicht aus eigener Illusion (oder Überzeugung ), sondern die man für die (oder: aus den) Illusionen der anderen tut. Zum Beispiel liest man den Sportteil einer Zeitung, aber nicht, weil man darüber getäuscht wird, wie unwichtig das ist, denn das ist dem Leser klar. Oft antwortet jemand, der gerade jenen Zeitungsbund liest: »Ich weiss, es ist dumm…« oder »Es interessiert mich eigentlich nicht, aber…«. Es sind also nicht die eigenen Täuschungen, denen man erliegt — das wäre eine langweilige Erklärung —, sondern den Illusionen der anderen, die man bedienen will oder muss. Es gibt also Dinge, die man trotz besseren Wissens glaubt — ein wichtiger Erklärungsansatz für die Mythen, die auch in der heutigen Gesellschaft nicht verschwunden sind (und vermutlich nie verschwinden werden).
Der Spielbegriff bei Pfaller
Hier greift Pfallers Spielkonzept ein. Er geht auf die beiden Koriphäen Caillois und Huizinga ein, denn gerade das Spiel bietet sich ihm als sinnvolle Bestätigung einer »Illusion der anderen« an, wie ich später erklären werde. Er liest und beurteilt die beiden, was sehr bemerkenswert ist. Selten gibt es sinnvolle Gegenüberstellungen von Caillois und Huizinga, gerade so, als täte es den Gamestudies ein Leid an, wenn einer davon einen Kratzer davontrüge. Bei Pfaller ist es Caillois, der einstecken muss. Er gibt zwar zu, dass dessen Spielkonzept eine hilfreiche Einteilung anbietet und Spiele kategorisieren lässt, aber er beanstandet, dass der Definition etwas Eigentliches fehlt: Caillois definiert nicht, er beschreibt nur verschiedene Formen.
Bei Huizinga sieht er dagegen die richtige Entwicklung der Problematik: Huizinga kategorisiert nicht, und, wie wir wissen, definiert auch schlecht. Seine Definitionen widersprechen sich oder sind unabgeschlossen. Pfaller greift ihm unter die Arme und nimmt eine einzelne Bemerkung von ihm als neue Grundlage: »Der heilige Ernst« — wie ihn Huizinga beschrieben hat — macht ein Spiel aus, dieser Ernst, der einen Spieler eifrig machen kann ohne besonderen Grund, der dazu führt, dass sich die Römer im Glückspiel ihre Sklavenschaft aufs Spiel gesetzt haben (so zitiert zumindest Juul einen antiken Chronisten), gehört zum Spiel und zeichnet es aus.
Wohin das führt ist absehbar: Der heilige Ernst birgt die Illusionen der anderen, er verlangt von einem Spieler den Einsatz seiner gesamten Beteiligung ab — seine Wut, seine Verzweiflung, seine Angst, die das Mass der Vernunft völlig überseigt (die sich aber nur in diesem Bereich, im Magic Circle findet). Dieser Ernst des Spiels ist aber nicht durch eigene Überzeugung hervorgerufen (man weiss ja, dass es ein Spiel ist), der Ernst im Spiel geschieht also auch wider besseres Wissen und ist also die Illusion von anderen, derentwegen man sich ereifern muss und — ganz wichtig in Pfallers Konzept— diese anderen muss es nicht einmal geben, daher können auch die Illusionen der anderen eine Illusion sein.
Heiliger Ernst und Interpassivität in MMORPGs
Ein bisschen selbstständig macht sich seine Theorie bereits jetzt. Viel konventioneller zwar, aber doch auf demselben Pfad, bewegt sich etwa dieser ganz aktuelle Artikel von De Paoli: »Automatic-Play and Player Deskilling in MMORPGs«. Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass im Umfeld von Internetspielen das Spielen ein reiner Wettbewerb geworden ist. Egal, welcher Detailreichtum ein Videogame aufbietet, wenn es als Mutliplayer gespielt wird, zählt nur noch der Sieg — jedes Spiel (mit Limes gegen Mutliplayer) nähert sich der Kategorie Agon an (wie sie Caillois beschrieben hat). Es ist auffällig, dass, statt zu spielen, Makros und Bots benutzt werden, die innerhalb kürzester Zeit die richtigen Tasten für einen drücken und einem das Spielen abnehmen — ja, das Phänomen der China Farmer wäre noch einmal eine andere Geschichte.

Tasten, die das Drücken von anderen Tasten — und schliesslich das Spielen selbst — ersetzen.
Wir haben hier das Prinzip der Interpassivität im Spiel, eine — Inception winkt! — Verschachtelung der Illusionen von anderen. Der Ernst des Videogames ist eine Illusion der anderen, das Spielen aber wiederum muss — trotz dieses Ernsts — gar nicht gespielt werden. Auch das ist schliesslich nur eine Illusion der anderen, genauer interpassiv erlebbar. Damit ‚dekonstruiert‘ sich Pfallers Theorie selbst: Der Ernst des Spielers wird durch die Illusionen der anderen erzeugt, aber zugleich entzieht sich der Spieler dem Ernst, indem er aufhört zu spielen, und damit wieder eine Illusion der anderen bedient, nämlich zu spielen.
Fazit
Robert Pfaller ist eine hochspannende Lektüre. Seine Theorien müssten eigentlich die ganze Rezeptionsforschung zum Wanken bringen — das ist viel gesagt, aber meine ehrlich Meinung, denn an die Interpassivität als ein Phänomen glaube ich tatsächlich. Ausserdem ist Pfaller mit seiner Huizinga- und Caillois-Interpretation einen wichtigen Schritt, gerade im deutschsprachigen Bereich, weitergegangen und sein gewandter philosophischer Denkstil ist eine Bereicherung für die analytischen und manchmal wirklich zum Totärgern trockenen Spielwissenschaftern. Pfaller zeigt, dass man mit dem Spielkonzept kreativ spielen und philosophieren kann, auch wenn es noch nicht kanonisch gefestigt ist.
Dennoch sollte man das Urteil ausgleichen: Pfallers grösste Idee, die Interpassivität, dürfte von Zizek, eigentlich von Lacan, stammen und auch wenn das kein Argument gegen Pfaller sein darf, so zeigt er doch in seiner etwas abschweifenden Art, dass er Zizek in mancher Beziehung hinterher hinkt (aber das darf nun wirklich keine Beleidigung für irgendjemanden sein). Schwach ist zum Teil auch seine Analyse von Caillois und Huizinga. Zwar macht er die wichtigen Dinge stark, aber er kehrt doch zu sehr unter den Tisch, dass sich Huizinga absolut unkonkret und widersprüchlich geäussert hat. Noch fieser aber ist, dass ihm entgeht, mit welchen Nuancen Caillois arbeitet, gerade Paidia und Ludus, die beiden Kategorien, die bestimmen, wie sehr die Regeln der Spiele fesseln, stehen mit dem heiligen Ernst doch in gewissem Zusammenhang und hätten sich seinen Ideen auch angeboten. Und zumindest hätte Caillois mit seiner Kategorie Ilinx, den Rauschspielen, doch auch Dinge eingefangen, die Pfaller wichtig sind: Die Gegenkultur im Zivilisierten, das barbarische Spiel, das sich in der entwickelten Zivilisation zunehmend auswächst.
Hat dies auf Quappe und die Welt rebloggt und kommentierte:
Ein neuer Bibliotheks-Eintrag auf Freies Feld zum Philosophen und Psychoanalytiker Robert Pfaller.