Von JÁNOS MOSER.
Kein einziges Fantasy-Game kommt ohne sie aus: die Magie. Die Verwendungsarten reichen von Elementarzaubern über Tierverwandlungen bis hin zu Beschwörungen, und so zahlreich mittelalterlich angehauchte Videospiele auf Konsolen, PC und Handy sind, so vielfältig sind ihre Verwendungsmöglichkeiten. Doch was ist das für eine Magie? Und was unterscheidet ihre Repräsentation in Videospielen von derjenigen in herkömmlichen Medien?
Herr über die Geister
Theorien über Magie sind so alt wie die Magie selbst. Es kann und soll an dieser Stelle deshalb auch kein allumfassender theoretischer Überblick gegeben werden. Statt bei der Kabbala anzufangen, blicken wir vorerst ins 19. Jahrhundert. Für die Gebrüder Grimm galt die Magie als die Religion des «kleinen Mannes». Die wirkliche Beschäftigung mit dem Phänomen begann aber erst, als europäische Geisteswissenschaftler und Schriftsteller infolge der Kolonialisierung nähere Bekanntschaft mit «primitiven» Urvölkern auf dem «dunklen Kontinent» machten. Das Resultat war die Geburt der modernen Anthropologie. Gelehrte wie Andrew Lang, Edward Tylor und James Frazer versuchten, anhand des kulturellen Lebens, das sie in Afrika vorfanden, nichts weniger als die Geschichte von den Ursprüngen der Menschheit zu schreiben. Dazu gehörte auch die Magie. Die magischen Rituale, deren Augenzeuge sie wurden (manchmal auch nicht), sahen sie als Vorform von Religion und Wissenschaft an. Frühe Ansätze wie die von Tylor verstanden die Magie als eine Form des Animismus, des Glaubens an eine von Geistern beseelte Umwelt. Freud fasst sie ein wenig später in Totem und Tabu (1913) mit den Worten zusammen: «Eine Anweisung, wie man verfahren müsse, um der Menschen, Tiere und Dinge, respektive ihrer Geister, Herr zu werden.» [1] Magie kann also als eine Form von Technik beschrieben werden, welche sich die Umwelt zu Untertan macht. Im Gegensatz zu unserem «modernen» Verständnis der Technik sieht Tylor jedoch einen gravierenden Unterschied: Wenn er das Prinzip der Magie mit «mistaking an ideal connexion for a real one» [2] bezeichnet, so geht er von einem Werturteil aus: das, was die Voodoo-Puppe mit dem Opfer verbindet, ist nicht etwa eine in der Realität gegebene, wissenschaftlich geprüfte Verbindung, sondern eine ideell hergestellte. Deshalb: Was der Puppe zustösst, stösst auch dem Opfer zu, egal, wo es sich befindet, unabhängig von räumlicher oder zeitlicher Entfernung. Lange, bevor poly- oder gar monotheistische Religionen entstanden, hatte sich der Mensch so quasi selbst zum Gott gemacht, indem er glaubte, die Zeit und Raum allein durch seine Gedanken, nach seinem Willen überwinden und beherrschen zu können.

James George Frazer (1854-41)
Ähnlichkeit und Kontiguität
Wie Tylor in seinem Buch Primitive Culture (1871) bemerkt, wird diese ideelle Beziehung durch «Sympathie» bestimmt. Gleiches wirkt auf Gleiches, Nahes auf Nahes, der Teil auf das Ganze. Frazer, der in der zweiten Auflage seines The Golden Bough (1901) eine erste massgebende Systematisierung der Magie vornimmt, begreift das Ähnlichkeitsprinzip auch als eines der Zusammengehörigkeit. Gegenstände wirken auf ihre Besitzer und umgekehrt; ganze Stämme stehen unter der Wirkung ihres zugehörigen Totemtieres. Selbst Eigennamen entfalten ihre magische Wirkung. Freud: «wenn man […] den Namen einer Person oder eines Geistes weiss, hat man eine gewisse Macht über den Träger des Namens erworben.» [3] Zusammengehörigkeit kann sich aber auch auf materielle Teile von Menschen beziehen, wie etwa Haare, Nägel usw., die der Schamane in seinen Sud kocht (der Teil entspricht dem Ganzen.) Das zweite Prinzip der Magie nennt Frazer auch das «kontagiöse»: so ist für den «Wilden» etwa das Schicksal einer Wunde unauflöslich mit der Waffe, die sie durch Berührung («Ansteckung») auslöste, verbunden. Freud, dessen Totem und Tabu stellenweise praktisch eine Paraphrasierung Frazers ist, schreibt von englischen Bauern, die «noch heute nach diesem Rezept handeln»: wenn sie sich «mit einer Sichel geschnitten haben», halten sie diese «von da an sorgfältig rein […], damit die Wunde nicht in Eiterung gerate.» [4]. Ähnlichkeit und Kontiguität – wenn der Magieglaube (und, wie das Beispiel der Bauern zeigt, auch der Aberglaube) nach Frazer auf diesen beiden Pfeilern beruht, so steht der Wilde, wie Freud bemerkt, unter der Herrschaft der Ideenassoziation. Diese verführt ihn zu allen möglichen Praktiken, sei es das Essverbot von bestimmten Speisen, das Malen von Zeichen in den Boden, das Vermeiden von Angehörigen in der Angst vor magischer Ansteckung. Die Psychoanalyse kann Freud dabei natürlich nicht ganz lassen: «Wir brauchen […] anzunehmen, dass der primitive Mensch ein grossartiges Zutrauen zur Macht seiner Wünsche hat.» [5].
Kinder und Neurotiker
Die Theorien von Frazer, Tylor oder eben Freud mögen auf treffende Weise die Assoziationen beschreiben, die wir noch heute beim Gedanken an das Magische haben. Magische Kräfte sind letztlich nichts anderes als Naturbeherrschung, welche auf der «primitiven» Idee aufbaut, der Mensch könne durch eine tiefere Verbindung mit seiner Umwelt – sofern er sie denn erkennt – diese allein mit seinem Willen lenken. Und so ruft ein Wisch mit dem Zauberstab, ein gemurmeltes, geheimes Wort das Gewünschte hervor. Leicht erkennen wir auch das Prinzip der Ähnlichkeit in der «heutigen» Magie in Filmen wieder: wenn der Zauberer Dr. Strange etwa im gleichnamigen Marvel-Streifen einen Kreis in die Luft zeichnet, so entsteht ein kreisrundes Dimensionstor. Dasselbe gilt für die Kontagion: noch heute glauben wohl manche, die Kraft eines Amuletts gehe durch Berührung auf seinen Träger über. So einleuchtend das alles scheint, dürfen wir nicht vergessen, dass die Anthropologie des 19. Und frühen 20. Jahrhunderts noch in rassistischen Ideen gefangen war, die nicht mehr unserem heutigen Verständnis entsprechen. So waren die magiegläubigen «Wilden» für Frazer, Tylor und co. gewissermassen Kinder, die sich, vor Unwettern fürchtend, die Beherrschung ihrer Umwelt zusammenfantasierten. Und wenn Freud seinen Patienten (und seiner Zeit) Neurosen diagnostizierte, so verstand er diese als Rückfall in assoziative, «wilde» Denkvorgänge. Angststörungen wurden durch übermässige Assoziationen erklärt, Schizophrenie gar durch den Glauben an unheilvolle Wirkungen von Worten und Namen. Magie, so erklärte man sich, war lediglich eine chaotische Vorform dessen, was das fortschrittliche 19. Jahrhundert als die gefestigten Wissenschaften kannte. Weit verbreitet war deshalb auch die Idee des «Überbleibsels»: gewisse Formen des Aberglaubens hatten bis ins 19. Jahrhundert hinein überlebt, doch man kannte ihren ursprünglichen magischen Grund nicht mehr, und so waren sie in der Moderne zu seltsamen, leeren Ritualen geworden, die nicht so recht in die aufgeklärte Zeit zu passen schienen. Trotzdem hielt man an ihnen fest, weil liebgewonnen. Ähnliches galt nach Andrew Lang für die Literatur: moderne Mythen und insbesondere die Fantastik sollte den Wunsch des Menschen nach dem Vergessenen, den «alten Formen» des Denkens befriedigen. Und heute? Scheinen uns vielleicht die spitzen Zauberhüte in Harry Potter etwas lächerlich; wie uns indes das Hexenmuseum auf Schloss Liebegg im Kanton Aargau lehrt, diente der Spitz früher angeblich dazu, Chakra-Energien zu bündeln.
Der Magier als Medium
Die Idee eines kontinuierlichen Fortschritts der Menschheit, von primitiver Magie hin zu Wissenschaft, von Animismus zu Monotheismus, von Aberglaube zu harten Fakten, wurde in der Anthropologie spätestens in den 1960er-Jahren zum Glück aufgegeben. Die bis heute wohl umfassendste anthropologische Theorie über Magie schrieb Marcel Mauss, Neffe und Schüler Durkheims. Waren die Grenzen zwischen Magie und Religion bislang ein fliessender (historischer) Übergang, betrachtet er Magie soziologisch: «Wir benennen so jeden Ritus, der nicht Teil eines organisierten Kultes, sondern privat, heimlich, geheimnisvoll ist und zum verbotenen Ritus als seinem Extrem tendiert. […] Es ist deutlich, dass wir die Magie nicht durch die Form ihrer Riten definieren, sondern durch die Bedingungen, unter denen sie vollzogen wird […]» [6]. Ebenso wie die Magie selbst nimmt der Magier eine Sonderstellung in der Gesellschaft ein. Als Medium zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Geister hat er Beziehungen zum Jenseitigen, Verborgenen und Unsichtbaren, gehört mehr in die Welt der Toten als der Lebenden. Durch mythische Offenbarung nimmt er die Geister in seinen Dienst, und in formelhaften Inkantationen spricht er ihre Sprache. Angesichts solcher Esoterik neigen wir noch heute dazu, die Magie scharf von der Wissenschaft zu trennen – die Sache ist aber natürlich nicht so einfach.

Marcel Mauss (1872-1950)
Determinismus und Bastelei
Wie wir bereits gesehen haben, könnte Magie als eine Art des Denkens bezeichnet werden. Die Schlüsse dieses Denkens, in dem entfernte Dinge mit einander verbunden werden, erscheinen uns heute als unwissenschaftlich. Was ist jedoch der Unterschied zwischen Magie und Wissenschaft? Claude Lévi-Strauss führt ihn auf das Mass an Vorbestimmung zurück: «der wesentliche Unterschied», schreibt er, besteht darin, «dass die eine [die Magie] einen globalen und integralen Determinismus voraussetzt, während die andere [die Wissenschaft] so vorgeht, dass sie Stufen unterscheidet, von denen nur einige gewisse Formen des Determinismus zulassen, die auf anderen Stufen nicht anwendbar sind.» [7]. Das «wilde Denken» wäre somit eine Art, den Determinismus im Ganzen zu vermuten und zu manipulieren, bevor er «erkannt und respektiert» wird. [8] Bevor also z.B. «wirkliche» physikalische Gesetze gefunden werden, besitzt das globale Strukturieren, welches das magische ist, eine innere Wirksamkeit, welches es zuweilen auf «echte» Arrangements stossen lässt, die sich später als wahr herausstellen (z.B. Demokrits Atomlehre). Die Magie wäre somit «ein Schatten, der den Körper ankündigt, und in gewissem Sinn ebenso vollständig [ist] wie er» [9] Das magische Denken «ist nicht ein erster Versuch» von wissenschaftlichem Denken, sondern es «bildet ein genau artikuliertes System», ist gewissermassen ein metaphorischer Ausdruck der Wissenschaft. «Anstatt also Magie und Wissenschaft als Gegensätze zu behandeln, wäre es besser, sie parallel zu setzen, als zwei Arten der Erkenntnis, die zwar hinsichtlich ihrer theoretischen und praktischen Ergebnisse ungleich sind […], nicht aber bezüglich der Art der geistigen Prozesse» [10]. Das magische Denken bezieht sich immer auf Begriffe des sinnlich Wahrnehmbaren: Zusammengehörigkeit von bestimmten Elementen einer Klasse (Tiere, Totems, Körperteile usw.) wird also ästhetisch erklärt, nicht durch die gleiche Drehzahl von Atomen. Lévi-Strauss bezeichnet es deshalb auch als «Wissenschaft vom Konkreten». Als oberstes Prinzip dieser Wissenschaft gilt die intellektuelle Bastelei. Bastelei? Nun, das klingt wohl etwas seltsam. Jedenfalls, nach Lévi-Strauss ist der Bastler im Gegensatz zum Gelehrten (Wissenschaftler) jemand, der mit «Überresten von Ereignissen» neue Gesamtheiten zusammenbaut. Das wilde Denken «erarbeitet Strukturen, indem es Ereignisse […] ordnet, während die Wissenschaft ‹unterwegs› allein deshalb, weil sie sich stets begründet, sich in Form von Ereignissen ihre Mittel und Ergebnisse schafft, dank den Strukturen, die sie unermüdlich herstellt und die ihre Hypothesen und Theorien bilden.» Und deshalb: «[…]es handelt sich nicht um zwei Stadien oder um zwei Phasen der Entwicklung des Wissens, denn beide Wege sind gleichermassen gültig.» [11]
Postmoderne Magie
In Literatur und Film finden sich zahlreiche Beispiele, die das Magische im Zusammenhang mit den von Tylor und Frazer propagierten Ideen darstellen. Zum einen natürlich in der betreffenden Epoche selbst, in einem der populärsten Abenteuerromane des ausgehenden 19. Jahrhunderts, She (1886) von Henry R. Haggard (1856 – 1925): die titelgebende Figur ist eine mächtige Hexe, die ihren Alterungsprozess durch das Feuer des Lebens aufhalten kann und, aus dem alten Ägypten stammend, selbst zum unheimlichen «Überbleibsel» wird. Moderne Geschichten wie Harry Potter berufen sich auch auf die Theorien von Mauss, in der die Unterscheidung zwischen Magier und Nicht-Magier soziologisch ist: die Welt der Muggel (der gewöhnlichen Menschen) und der Zauberer bilden ganz einfach zwei gleichzeitig nebeneinander existierende Parallelgesellschaften – wobei die geheime magische Welt von der gewöhnlichen (ökonomisch) nicht mehr so weit entfernt ist, wie es scheint – eine Grimm’sche Märchenhexe hätte wohl noch keine Zaubererbank (Gringotts) gebraucht, um ihr Gold zu deponieren. Eine «Geisterwelt» von der sich die magischen Kräfte herleiten, spielt, wenn überhaupt, nur marginal eine Rolle. Stattdessen benutzt Harry Potter sozusagen die magisch-rituelle «Oberfläche» und setzt deren Elemente neu zusammen. Die Autorin wird so selbst quasi die «Bastlerin» einer postmodernen Magie, der ein gigantisches Instrumentarium offen steht, dessen Gebrauch keinen Initiationsritus mehr erfordert. Ebenso sind Ansätze einer magischen Sprache zu finden. Auch hier spielt ein geisterhafter Überbau keine Rolle, doch getreu nach dem Ausspruch: «Triffst du nur das Zauberwort», müssen Harry und seine Freunde ihre Worte mit der richtigen Betonung und Willenskraft aussprechen, damit der Zauber wirksam wird. Nach Mauss ist Magie «in eminentem Masse wirksam» [12], das heisst, sie schafft, ähnlich wie eine Sprachhandlung, eine neue Wirklichkeit. Hinter der Magie steckt also wohl eine Sprachphilosophie, die Platons Kratylos (Worte als Werkzeuge) auf alle Fälle näher steht als Derridas La différance. Das wäre aber eine Untersuchung für ein anderes Mal.
Kristalle und Krieger

Final Fantasy I (1987)
Wie sieht es nun mit der Magie in Videospielen aus? Man kann sich natürlich kaum einen kompletten Überblick über alle je erfundenen Magiesysteme in jedem Fantasygame verschaffen. Eine Auflistung dieser Art würde auch nicht viel Sinn machen. Stattdessen beschränken wir uns auf eine Anzahl prominenter Games, in denen Magie eine wichtige Rolle – nicht nur in ihrer Verwendung – spielt. Ein besonders gutes Beispiel hierzu dürften die Final Fantasy-Games sein. Die mit anhaltender Popularität gesegnete Spielereihe, die es bis heute auf fünfzehn Hauptteile und unzählige Spin-Offs bringt, machte das sogenannte JRPG-Genre bei uns populär – die japanische Variante des Fantasy-Rollenspiels, das im Unterschied zur «westlichen Art» meist eine fest vorgegebene Storyline und Charaktere besitzt. Da diese Games, anders als etwa Skyrim, ihren Fokus nicht auf freie Entscheidungen und Spielereien legen, fällt es uns leichter, die Hintergründe dieser magischen Welten zu erforschen. Die ersten paar Final Fantasy-Teile waren noch relativ einfach gestrickt. In den meisten Fällen spielte man eine Gruppe von vier Helden («Krieger des Lichts» genannt), deren Ziel es war, das Gleichgewicht der Welt wiederherzustellen. Dieses wurde durch vier Kristalle geschützt, welche den vier Elementen zugeordnet waren: Feuer, Erde, Wasser, Luft. Die magische Qualität dieser Kristalle war evident: drohte ihre Zerstörung durch feindliche Kräfte, würde die ganze Welt in Mitleidenschaft gezogen – bis hin zu ihrer vollständigen Vernichtung. Mit anderen Worten: hier haben wir einen simplen Fall einer «ideal connexion». Wir haben Zahlen- und Element-Symbolik; – und wir haben mit dem Kristall, der allegorisch für die ganze Final Fantasy-Reihe steht, vielleicht sogar etwas in der Form, was Lévi-Strauss als «totemistischer Operator» bezeichnet hat. Nach Lévi-Strauss gliedert sich das magische Denken in eine Art Gitternetz. Die Linien dieses Netzes stellen das Klassifikationssystem dar, nach welchem die Natur gegliedert ist. Bekanntlich stellen für die «Wilden» gewisse Pflanzen und Tiere Totems dar, an die wiederum gewisse Verhaltensregeln geknüpft sind. Nun kann im Grunde alles ein Totem sein und die Maschen dieses gedanklichen Netzes über der Natur beliebig weit oder eng gefasst. Die Unterteilung springt von der Art zum Individuum, vom Individuum zu Teilen des Individuums, die Teile weisen wieder zurück auf das Individuum usw. Lévi-Strauss: «[Der Operator] bildet also eine Art Begriffsapparat, der die Einheit durch die Vielheit, die Vielheit durch die Einheit, die Mannigfaltigkeit durch die Identität und die Identität durch die Mannigfaltigkeit filtert.» [13] Zurück zu Final Fantasy: Mit Totems und Verhaltensregeln haben die Kristalle natürlich nichts zu tun. Doch die magisch-elementare Unterteilung der Welt funktioniert nach dem genau gleichen Muster: stünden an der oberen Spitze die vier Kristalle als Essenzen ihrer jeweiligen Elemente, kämen wir, je weiter wir die Skala hinunterschreiten, zu den mit den Elementen verbundenen Naturerscheinungen (Fluss, Vulkan, Höhle usw.), zu Bewohnern dieser Naturerscheinungen (Fische, Feuersalamander, Kobolde …) und würden am Schluss beim Individuum (König eines Fischvolkes) landen, das seinerseits auf alle vorherigen Bestimmungen wirkt. Der Esoteriktanten-Spruch «Alles ist mit allem verbunden» gilt also nicht nur für die Totems, sondern für jegliches magisches System. Final Fantasy ist ein besonders einleuchtendes Beispiel für einen klassifizierenden Elementar-Determinismus; im Grunde herrschen ähnliche Unterteilungen auch in anderen Fantasygames, sie sind nur weniger offensichtlich.
Magie zum Kaufen
Vorhin landeten wir bei den Individuen – wie sieht es mit unseren «Kriegern des Lichts» aus? Hier kommen wir zur spielmechanischen Oberfläche, wo es zwar interessant, aber wiederum etwas komplizierter wird. Während die Welt von Final Fantasy (zumindest der ersten paar Teile) nach dem einfachen Elementar-Schema gegliedert ist und diese Gliederung im Grunde auch in den Kämpfen zum Einsatz kommt (Feuermagie schädigt Eismonster usw.), so sind die Spielmechaniken, wie Magie erlernt und eingesetzt wird, von Spiel zu Spiel unterschiedlich. Im ersten Final Fantasy (1987) konnte man die Magie ganz einfach in den dafür ausgerüsteten Magieshops kaufen. Das heisst, mit genug Geld kann man sich ganz einfach zum mächtigsten Magier der Welt mausern (zusammen mit dem entsprechend hohen Level). Diese etwas naive Kapitalismusgläubigkeit steht wohl in schreiendem Gegensatz zu jeglichem neopaganistischen Wertesystem, soll uns aber nicht weiter beunruhigen. Die Magieshops wurden für die nächsten Teile bis hin zum Final Fantasy V (mit IV als Ausnahme) übernommen. In FFII (1988) werden die Zauber (und anderen Fähigkeiten) stärker, je häufiger man sie einsetzt. Teil 3 (1990) setzte auf das bereits im hier erwähnte Jobsystem; Zauber kann also nur wirken, wer in die dafür geeignete Position wechselt (Schwarzmagier, Weissmagier, Rotmagier usw.) Eine Verfeinerung und Variation des Systems gibt es in Final Fantasy V (1992), wo sich die magischen Fähigkeiten der verschiedenen Klassen nicht nur kombinieren lassen, sondern gewisse magische Kräfte auch nur nach dem Besiegen magischer Wesen («Summons») zur Verfügung stehen. Wahlweise findet man die Zauber in Teil 1 bis 5 nicht nur in Shops, sondern auch in gut versteckten Schatzkisten. Letztlich läuft es aber auf das Gleiche heraus: das, was die FF-Welt magisch macht – die Kristalle –, hat nichts damit zu tun, wie die Magie im Spielverlauf erlernt und gemeistert wird. Die Magie ist gewissermassen einfach «da», sie bedarf keiner Erklärung durch eine übergeordnete Geisterwelt; die Magier sind in dem Sinne auch keine «Medien», die in Kontakt zu höheren Sphären stehen. Von den ersten Teilen hat einzig Final Fantasy IV (1991) keine Magieshops. Die Klassen (Magier, Dieb, Krieger …) sind fest an die einzelnen Figuren gebunden, die erstmals jeweils rudimentäre Persönlichkeiten und gewisse Charakterzüge haben. Die Magie wird von den magiebegabten Figuren jeweils automatisch gelernt, sobald sie ein gewisses Level erreicht haben oder sobald ein bestimmtes Ereignis eingetreten ist. Aber auch hier wird nicht erklärt, «wie sie in die Welt gekommen ist», sondern wird durch die kristallene Gliederung des Spiels vorausgesetzt. Das ist natürlich durchaus legitim – selbst der Herr der Ringe hält sich mit Erklärungen zurück – und ein gangbarer, vielleicht besserer Weg der Postmoderne, anders als Filme wie Duell der Magier (mit Nicolas Cage …). Ähnlich, wie die Zombies in The Walking Dead nichts mehr mit Voodoo-Praktiken zu tun haben, ist die Magie in Final Fantasy eine ausgehöhlte Metapher – die in einigen Fällen durch Neuzusammensetzung mit frischem Inhalt gefüllt wird.
Espers

Das Intro von FFVI (1994)
Tatsächlich findet in Final Fantasy VI (1994) erstmals in mehrfacher Beziehung eine Änderung statt. Das betrifft nicht nur die ausgereiftere Erzählung und die Charaktere, sondern auch die Magie. Spielten die vorigen Teile in relativ generischen Fantasywelten, nimmt FFVI neu Elemente der Science-Fiction (oder des «Steampunk» – wie man es nennen will) auf. «Was die Welt im innersten zusammenhält», die Kristalle, sind verschwunden, stattdessen erscheint die Magie als eine schreckliche, vergessene Macht. Aus dem Prolog:
Long ago, the War of the Magi reduced the world to a scorched wasteland, and Magic simply ceased to exist. 1000 years have passed… Iron, gunpowder and steam engines have been rediscovered, and high technology reigns. But there are those who would enslave the world by reviving the dread destructive power known as «Magic». Can it be that those in power are on the verge of repeating a senseless and deadly mistake?
Der besagte «War of the Magi», eine alte Legende, erzählt von einem verheerenden Krieg unter Menschen und magischen Wesen, sogenannten «Espers». In ihrem Kampf um die Vorherrschaft begannen gewisse Menschen, die Kräfte der «Esper» zu nutzen – und wurden so befähigt, Magie zu wirken (die besagten «Magi»). Die Kräfte der «Magi» waren jedoch so zerstörerisch, dass sie selbst als Hexen und Magier verfolgt und ausgelöscht wurden. Nachdem der Schaden durch den Krieg zu gross geworden war, beschlossen die Esper, sich aus der Welt der Menschen zurückzuziehen. Sie gründeten ein verborgenes Reich, fern von allen zerstörerischen Machenschaften. – doch 1000 Jahre später versucht das sogenannte «Imperium», in das magische Land der Esper einzudringen, um ihre Kräfte erneut zu nutzen. So wollen sie die sogenannte «Magitek»-Technologie antreiben, eine Art magisch verstärkte Waffentechnologie. Die einzigen, die sich ihnen entgegenstellen, sind die «Returners», eine kleine Rebellentruppe; oder eben «die Guten». Das Spiel beginnt damit, dass Terra, eine junge Frau und Sklavin des Imperiums, mit zwei Begleitern losgeschickt wird, um in der Minenstadt Narshe nach einem Esper zu suchen, der angeblich in den Minenschächten gefunden worden sei. Nach einem Zwischenfall landet sie jedoch bei den Rebellen, die ihrerseits grosses Interesse an ihr zeigen. Mit ihr könnte sich das Blatt im Krieg wenden – denn sie scheint eine seltsame Verbindung zu den magischen Wesen zu haben … – so viel also zur Ausgangslage. Neben der «Star Wars»-Formel fällt etwas besonders auf: die Magie leitet sich neu von den Entitäten her, die in den früheren Teilen die «Summons», also die beschwörbaren Kreaturen gewesen waren. In ihrem magischen Reich kommen sie wohl dem am nächsten, was Marcel Mauss mit der Geisterwelt bezeichnet hat. Die Magier der FFVI-Welt sind auf klassische Weise diejenigen, welche die Wesen kontrollieren und gemäss ihrem Willen zähmen können. Mehr noch – es gibt eine «falsche», zerstörerische Art, die Esper-Macht zu nutzen – die besagte «Magitek»-Technologie des Imperiums «extrahiert» die magische Energie der Geister, worauf sie sterben – und eine «gute», welche auf einer Symbiose zwischen Mensch und Esper beruht. Wie sich später herausstellen wird, ist Terra das Kind einer menschlichen Mutter und eines Esper-Vaters, was sie zur Hexe macht, also zum Medium zwischen der Geister- und der Menschenwelt. Sie ist zunächst als einzige in der Lage, «natürliche» Magie anzuwenden, kann später auch zwischen ihrer Esper- und Menschenform wechseln. Nach dem ersten Drittel des Spiels werden dann auch die übrigen Charaktere dazu befähigt, Magie zu erlernen, indem sie die Essenz der Esper als sogenannte «Magicite», Magiesteine, in sich aufnehmen. In der Form der Steine stellen die Esper den Menschen ihre Kräfte quasi freiwillig zur Verfügung, es handelt sich also um die «wahre Lehre» der Magie. Nur so wird der Kampf gegen die üblen Machenschaften des Imperiums möglich. Wir sehen also, dass die Magie in der Welt und die Magie als Spielsystem nicht mehr nebeneinander stehen, wie in FFI-V, sondern sich gegenseitig bedingen – das war das eigentlich Revolutionäre an Final Fantasy VI.

FFVI (Kampfszene)
Der Lebensstrom des Planeten
Wie ging es mit Final Fantasy weiter? War die Barriere, die FFVI für die Möglichkeiten der Videospiel-Magie durchbrochen hatte, endgültig aus dem Weg geräumt? Für eine Weile schien es so. Im direkten Nachfolger Final Fantasy VII (1997), einem weiteren Meilenstein (diesmal grafisch), nahm die sogenannte «Materia» den Platz der «Magicite»-Steine ein. Statt aus den «Espers» speiste sich diese direkt aus dem «Life Stream», dem Lebensstrom des Planeten. Und auch hier wieder gibt es eine böse Organisation (diesmal eine Firma), welche den Lebensstrom missbräuchlich für «Mako-Energie» anzapft und so den Planeten zerstört. Sakaguchi, der Erfinder und Director von Final Fantasy, gab einst in einem Interview bekannt, am Beginn der Entwicklung jedes Spiels stünde für ihn ein übergeordnetes Thema. War es für FFVI sicherlich die Magie, so verriet er das FFVII-Thema mit dem Wort «Natur» – in gewissem Sinne vielleicht ein- und dasselbe. Schauen wir auf die späteren Ableger der Final Fantasy-Reihe, so entfernten sich die Spiele indes wieder von diesem plastisch-greifbaren Konzept der Magie. In FFVII sind die Zaubersprüche limitierte Zahleneinheiten, in FFX werden sie durch die Bewegung auf einem Spielbrett (das «Sphärobrett») freigeschaltet. Insgesamt könnte man die Magie der FF-Spiele also auf einer Skala anordnen. Auf der einen Seite steht die «narrative Magie»: in FFIV, FFVI und FFVII ist ihre Funktion in eine mehr oder weniger ausgeklügelte Geschichte gefasst. Oftmals spielt eine übergeordnete Sphäre oder eine Art «Geisterwelt» eine Rolle, welche erzählerisch-mythenhaft eingebunden ist und von der die Magier ihre speziellen Kräfte beziehen. Auf der anderen Seite haben wir die «ludische Magie», welche die Mythen und ihre magischen Auswirkungen voneinander trennt und nicht aufeinander einwirken lässt. Wohlbemerkt bezieht sich diese Skala auf die Positionierung Spielmechanik in der Welt und nicht auf die Welt selbst. Hinter jedem FF (bis zu Teil 5) steht die wundersame Essenz, der magische Kristall-Operator, der die Fantasy von Final Fantasy ausmacht. Selbstredend gehören dazu auch die Monster, die mittelalterlichen Schlösser und die geheimnisvollen Höhlen. Auch die Musik von Nobuo Uematsu darf hier nicht unerwähnt bleiben. Ich zitiere frei nach einem Internet-Kommentar: «The music is more ‘Final Fantasy’ than Final Fantasy itself».
Ifrit und Atlantis
Wir haben die anthropologische Ebene für eine Weile verlassen und uns durch die Welt der Videospiele bewegt. Nun gilt es, zu ihr zurückzukehren. Wie viel «wilde» Magie-Theorie steckt eigentlich noch in Final Fantasy und anderen Rollenspielen? Gehen wir der Reihe nach durch. Wie wir gesehen haben, sahen die frühsten Theorien von Tylor und co. die Magie als eine Form des Animismus an. Animismus haben wir auch in den erwähnten FF-Teilen VI und VII, mit dem «Life Stream» des Planeten einerseits und den «Espers» andererseits. Wobei letztere vielleicht nicht so geisterhaft sind, wie wir uns Geister vorstellen – doch man bedenke, dass ein Stammesmagier in seinen Visionen die Geister wohl als ebenso körperlich anwesend beschreiben würde wie jedwedes Gegenüber. Als zweites haben wir die Definition von Freud, «wie man verfahren müsse, um der Menschen, Tiere und Dinge, respektive ihrer Geister, Herr zu werden.» In Final Fantasy VI gibt es eine «richtige» Art (Returners) und eine «falsche» Art (Imperium), der Geister Herr zu werden; zusätzlich ist also eine moralische Ebene eingeschaltet – eigentlich ziemlich interessant, da Videospiele in anderen Belangen nicht unbedingt für irgendwelche Moralitäten bekannt sind. Aber: heute soll man unserem Planeten bekanntlich Sorge tragen, wieso dann nicht auch in einem Videospiel? Drittens: Die Prinzipien der «Ähnlichkeit» und der «Kontiguität» der Magie sind in FF und vielen anderen Spielen ebenfalls erfüllt. Nun, zwar führen die Figuren bei jedem Zauber stets die gleiche Bewegung aus, aber gewisse Formen des Voodoo sind auch in Videospielen allgegenwärtig. Zum erwähnten Beispiel der Bauern, welche die Sichel putzen, kommen einem evtl. die «Vampir»-Waffen der Games in den Sinn, die dem Opfer auch lange Zeit nach der Verwundung schaden und dem Träger umgekehrt Lebensenergie spenden. Viertens: zum Glück haben sich auch heutige Videospiele in Sachen Magie von gewissen naiven Ideen des 19. Jahrhunderts gelöst. Magier und Hexen werden in den FF-Games nicht als Neurotiker dargestellt, sondern im Gegenteil sogar als Friedensstifter (wie Terra). Zudem sind sie häufig furchtbar belesen, besitzen ganze Bibliotheken und erforschen die Geheimnisse der Welt (FFV: Library of Ancients). Andere Ideen hingegen halten sich hartnäckig, so etwa die Dichotomie zwischen Magie und Technik. Hier scheinen die Videospiele also noch nicht mal in den 60er-Jahren angekommen zu sein. Auch von den im 19. Jahrhundert so beliebten «Überbleibseln» haben sich viele Fantasygames nicht trennen können: das Magische als alte, verlorene Kraft; alte Ruinen, in denen geheimnisvolle Kräfte bis in die heutige Zeit wirken. Besonders beliebt sind auch die Mythen, wobei in Final Fantasy zusammen gedacht wird, was nur irgendwie zusammen geht. Es reihen sich Namen wie Shiva und Ifrit neben Gilgamesh und Atlantis, hinzu kommen Eigenkreationen wie Zozo oder Mobliz. Mit den Namen (und Mythen) wird sprichwörtlich Magie betrieben, oder wie Lévi-Strauss sagen würde: Bastelei, Hauptsache, es klingt gut. Manchmal nimmt die Bastelei indes dann doch recht absurde Züge an, wenn etwa im PS1-Game Legend of Mana von einem Dorf namens «Domina» die Rede ist. Apropos Sprache: im JRPG Treasure of the Rudras können Zaubersprüche sogar in kabbalistischer Manier aufgeschrieben werden.
Wilde Spiele
Bislang kehrte dieser Essay ein Problem unter den Teppich: taugt Anthropologie überhaupt dazu, Magie in Videospielen zu beschreiben? Abgesehen davon, dass beides, die Wissenschaft und die Unterhaltungselektronik, doch irgendwie mit Menschen zu tun hat, schien der Ansatz mehr wie eine Notlösung: da es in der besagten Wissenschaft nun mal die umfassendsten «ernsthaften» Untersuchungen zur Magie gibt, diese in der heutigen Realität aber praktisch ausgestorben ist, lag es nahe, auf den einen Bereich des menschlichen Lebens auszuweichen, in dem magische Phänomene noch omnipräsent sind: das Spiel. Dagegen gibt es sicherlich viel einzuwenden. Dennoch war, wie sich herausstellt, auch Lévi-Strauss dem Spiel nicht abgeneigt. Darüber sagt er: «Wenn das mythische Denken (…) nicht ohne Analogien zur Bastelei (…) ist […] so beziehen zwischen Spiel und Ritus Beziehungen der gleichen Art. Jedes Spiel ist durch die Gesamtheit seiner Regeln bestimmt, die eine praktisch unbegrenzte Anzahl von Partien ermöglichen; aber der Ritus, der auch ein ‘Spiel’ ist, ähnelt vielmehr einer bevorzugten, aus allen möglichen herausgehobenen Partie, denn nur diese ergibt eine bestimmte Art von Gleichgewicht zwischen den beiden Partnern.» [14] Lévi-Strauss konkretisiert, was er meint, indem er auf einen bestimmten Ritus bei den Fox-Indianern verweist. Der Adaptionsritus, der dazu dient, die Seelen der Toten dazu zu veranlassen, das Jenseits endgültig aufzusuchen und zum Schutzgeist zu werden, besteht in einer Reihe von Spielen. Die Spieler werden in zwei Mannschaften, die Tokan und die Kicko, eingeteilt, und stellen die so die Teilung zwischen den Toten und den Lebenden dar. Anders als bei einem «richtigen» Spiel steht der Ausgang der Partie aber schon in vorherein fest. Lévi-Strauss zitiert Michelson: «Wenn sie Ball spielen, geschieht folgendes: war der Verstorbene, für den der Adoptionsritus gefeiert wird, ein Tokana, so gewinnen die Tokanagi das Spiel. Die Kickoagi können nicht gewinnen. Wird dagegen das Fest für eine Kicko-Frau gefeiert, so gewinnen die Kickoagi, und die Tokanagi können nicht gewinnen.» [15]. Das heisst, die Geister der Toten werden besänftigt, indem sie symbolisch ein letztes Mail den Sieg über die Lebenden davontragen dürfen. Im Gegenzug sind die Geister dann dazu verpflichtet, den Lebenden Kleider, Essen und ein langes Leben zu garantieren. Das Spiel selbst wirkt trennend (Lebende und Tote), der Ritus verbindend (Gläubige); das Spiel schafft eine Symmetrie (zwei Mannschaften), die zur Asymmetrie wird (Gewinn oder Niederlage), der Ritus eine Asymmetrie (profan vs. Sakral), die in Symmetrie aufgelöst wird (alle Teilnehmer gelangen auf die «Gewinnerseite»). Spiel und Magie sind also durchaus miteinander vergleichbar. Ersteres gehört nach Lévi-Strauss im Gegensatz zur Magie in unsere moderne, wissenschaftliche Zeit: «Wie die Wissenschaft […] bringt das Spiel, von einer Struktur ausgehend, Ereignisse hervor: es ist also begreiflich, dass in unseren Industriegesellschaften die Wettspiele gedeihen; während die Riten und Mythen, nach Art der Bastelei (die diese Industriegesellschaften nicht mehr dulden, es sei denn als Hobby oder als Zeitvertrieb), ereignishafte Gesamtheiten auseinandernehmen und wieder zusammensetzen.» [16]
Magie als Spiel

Das Sphärobrett aus FFX
Im vorletzten Abschnitt dieses Textes noch schnell eine neue These von Lévi-Strauss in den Raum zu werfen, wirkt wohl auch etwas zusammengebastelt. Aber machen wir es wie die Magier und nutzen die uns zugetragenen Bruchstücke. Auf alle Fälle gelangen wir so wieder zur Eingangsfrage zurück: was unterscheidet die Magie in Videospielen von «herkömmlicher» Magie? Zunächst stellen wir fest, dass viel von dem, wie uns die Magie in heutigen Büchern und Filmen vermittelt wird, auch auf Games zutrifft: nicht nur ist sie durch die strukturelle Ordnung der Welt bestimmt, sie ist auch mit Sprache, mit Ähnlichkeit und Kontiguität, mit Determinismus verknüpft. Wie für andere Phänomene gilt auch für die Magie, dass der Inhalt, zu dem sie einst gehörte, verschwunden ist, nur noch die Formen übrig geblieben sind, die aber ihrerseits wieder Platz für neue Inhalte bieten. Im Grunde genommen könnte man die Magie sogar zum Prinzip der Postmoderne erheben: oder sind die Formen nicht ihr Inhalt? Für Videospiele im Speziellen haben wir indes eine Skala aufgestellt: am ihrem einen Ende die «narrative Magie», welche die magischen Spielprinzipien in eine Erzählung einbindet, und an ihrem anderen Ende die «ludische Magie», welche Erzählung und Spielprinzip voneinander trennt. Erstere hat uns besonders beschäftigt, da hier etwas eingelöst scheint, was Bücher so nicht bieten: mit den Magicite-Steinen und der Materia, die so etwas wie Mytheme sind, kann sprichwörtlich gespielt, gebastelt werden – die Figuren können je nach Entscheidung des Spielers z.B. beliebige Zaubersprüche meistern. Bei der ludischen Magie fehlen zwar die Mytheme, das tut der fröhlichen Bastelei aber keinen Abbruch. Die vorhin genannte These von Lévi-Strauss gilt also in beiden Fällen für das Videospiel nicht mehr. Denn statt die Magie und das Spiel zu trennen, verbindet das Videospiel die beiden Aspekte: Magie ist Spiel, Spiel ist Magie. Nun, darauf sind wir jetzt mit viel theoretischem Brimborium gekommen. Wenn wir die Formel von einem gemütlicheren Blickwinkel von der Couch aus betrachten, ergibt sie sich auch so. Ich erinnere mich zum Beispiel noch gut an die ersten Stunden, die ich mit Final Fantasy IX verbracht habe. Ich war vierzehn oder fünfzehn Jahre alt und schaffte den Boss in der Eishöhle einfach nicht. Aber als ich ihn endlich schaffte und ins Städtchen Dali kam, war es um mich geschehen: Ich musste dieses Spiel einfach spielen, koste es, was es wolle. Da ich die PlayStation damals nur am Wochenende nutzen konnte und ich diese Tage auch jeweils damit verbrachte, von morgens bis abends zu spielen, trug mir das einige Konflikte am Esstisch ein. Sofern ich überhaupt ass, denn daran war nicht mehr zu denken, auch an Schlaf nicht. Ebenso ging es mir wenig später mit FFVI, den Espers und der Hexe Terra. Dass die übrigen Teile I-V nach und nach für den Gameboy Advance (bzw. Nintendo DS) erschienen, kam mir entgegen, da ich so nicht mehr auf Emulatoren ausweichen musste (die ersten Teile der Reihe waren damals noch nicht in Europa erhältlich). Und so schien es mir – und so scheint es mir vielleicht heute noch – Final Fantasy war die finale Form der Magie.
Quellen
[1] Lohmann, Hans-Martin 2016 (Hg.): Sigmund Freud. Totem und Tabu, Stuttgart: Reclam Verlag, S. 109.
[2] Ebd., S. 110.
[3] Ebd, S. 114.
[4] Ebd., S. 115.
[5] Ebd., S. 116.
[6] Ritter, Hennig (Übers.) 1989: Marcel Mauss. Soziologie und Anthropologie I. Theorie der Magie. Soziale Morphologie. Mit einer Einleitung von Claude Lévi-Strauss, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 58.
[7] Naumann, Hans 2016: Claude Lévi-Strauss. Das wilde Denken, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
[8] Ebd.
[9] Ebd., S. 25.
[10] Ebd.
[11] Ebd., S. 35.
[12] Marcel Mauss, S. 53.
[13] Wildes Denken, S. 179.
[14] Ebd., S. 41.
[15] Michelson, T. 1925: „Notes on Fox Mortuary Customs and Beliefs“, 40th Annual Report, Bureau of American Ethnology (1918 – 1919), Washington, S. 385.
[16] Wildes Denken, S. 48.