Von BAECITYROLLER.
Der Anlass: Resident Evil: Village. Die Idee: FreiesFeld beleuchtet Spiele-Horror in einem ausführlichen Mehrfach-Special. Thema heute: die drei Paradigmen des (Survival?) Horrors. Thema letzte Woche: Narration im RE-Universum.
Survival Horror ist ein Mythos. Seine blosse Erwähnung evoziert ein mythisches Zeitalter, ein golden age des Gamings, eine Zeit, die längst vergangen ist und immer schon längst vergangen scheint, verstaut in irgendeinem Highschool-Spind, zusammen mit Skateboarden, The Ring, No Doubt und Highschool-Spinden. Seine berühmtesten Titel – Resident Evil, Silent Hill – evozieren eine Epoche, in der Gaming das war, was es vorher und seither immer sein wollte: relevant und problematisch; vertreten in den Kellern pickliger LAN-Apostel und auf den Titelseiten der Boulevardzeitungen, verantwortlich für Dotcom-Millionäre und für das Columbine-Massaker. Every kind of pleasure.
Genre bedeutet immer Streit, also ist Survival Horror, genau: umstritten. Was gehört dazu? Was nicht? Der mythische Charakter des Genres führt dazu, dass besonders erbittert gestritten wird. Im Ring(u) stehen dabei vor allem zwei Extrempositionen: Eine puristisch-pedantische Ansicht, die lange und spezifische Kriterienkataloge aufstellen will, die ein Game erfüllen muss, um ‚echter’ Survival Horror zu sein, quasi einen sehr starken Begriff von ‚Survival Horror’ hat und ihn gegen den von überallher drohenden Zerfall schützen will (bzw. seinen bereits stattgefundenen Zerfall nostalgisch beklagt, „Wo ist die fixe Kamera?“); und eine gelangweilt-desinteressierte Ansicht, die der Meinung ist, dass es nichts bringt, über Survival Horror zu reden, weil jedes dem Genre zugeordnete Game einen wilden Mix aus allen möglichen Eigenschaften darstellt, aus dem man unmöglich spezifische Eigenschaften gewinnen kann – quasi ein sehr schwacher Begriff von ‚Survival Horror’, hier als ein blosser Marketingbegriff für die unterschiedlichsten Games verstanden, die sich ansonsten fast bis gar nichts teilen.
Stattdessen hier eine andere These: Während Survival Horror zwar eine unübersichtliche Anzahl durchaus sehr verschiedener Games hervorgebracht hat (und immer noch hervorbringt), wird das Genre insgesamt doch von nur drei unterschiedlichen Paradigmen bestimmt wird, d.h. zunächst, dass sich alle Vertreter der Gattung eindeutig einem (und prinzipiell nur einem) Paradigma zuordnen lassen. Das Paradigma bestimmt, woher der Horror kommt, und wie man mit ihm umzugehen hat. Es bestimmt, worin der Survival besteht. Das Paradigma bestimmt, auf welche Weise man sich wovor fürchtet.
Die Behauptung der zweiten Ansicht, wonach das Genre ausser seinem Namen keine verbindenden und streng identifizierbaren Eigenschaften anbietet, wäre demnach also unwahr: Man kann sehr wohl bestimmte Charakteristiken feststellen. Ebenso widersprochen wäre damit aber der ersten Behauptung, die auf Kriterienlisten abzielt: Survival Horror ist nämlich nicht eins, sondern drei; keine Einheit, sondern ein Bündel dreier Paradigmen, die sich gegenseitig ausschliessen, und die zueinander widersprüchlichen Kriterien folgen.

Resident Evil 1 (1996)
(1) Das Paradigma Resident Evil
Klassiker dieses Paradigmas ist Resident Evil (Capcom/PS1, 1996; original: バイオ ハザード). Nicht zufällig kennt man das Game in Japan unter dem Titel „Biohazard“: In diesem Paradigma hat der Horror eine explizit biologische, für gewöhnlich: biochemische Ursache. Dieses Universum wimmelt also von Viren, Bakterien, Prionen, Pilzen, Drogen, Radioaktivität und sonst allem, was der Plague Inc.-Werkzeugkasten so hergibt. Ob Untote, Werwölfe, oder Mumien: Der Schrecken ist aufgrund einer biochemischen Angelegenheit – mal absichtlich, mal unfallartig – in die Welt gekommen, Zombies sind Zombies aufgrund von Krankheiten, Experimenten, oder Mutationen. Dieses Paradigma träumt einen Alptraum, der aus der Verknüpfung von Finanz- und Medizinindustrie erwächst, ergo sind ihre big player, sowohl auf der guten als auch auf der bösen Seite, supranationale Pharma- oder Biotechnologiekonzerne von oft extremer finanzieller und politischer Macht, von denen die Umbrella Corporation nur das berühmteste Beispiel ist.
Wehrt man sich gegen dieses Böse, so wehrt man sich mit Schusswaffen. Der Umgang der Protagonist:innen damit wird mal als mehr, mal als weniger kompetent simuliert und mal ausführlicher, mal gar nicht begründet, das Waffenarsenal ist mal grösser, mal kleiner, mal realistischer, mal abgedrehter, aber die Tendenz ist eindeutig: Auf das Böse wird geschossen. Nahkampf ist entweder nur für Freaks oder nur im Notfall zu empfehlen, oder gar nicht erst möglich. Das hat unter anderem zur Folge, dass Munition zu einer jenen begrenzten Ressourcen wird, die für Moser unter anderem das untote Spieldesign ausmachen: Im Resident-Evil-Paradigma (fortan REP) bin ich auf Munition angewiesen und muss angesichts der potenziellen Knappheit derselben einen sparsamen Umgang damit unterhalten – wird doch mein Überleben unter anderem davon abhängen, nicht mitten in einem Gefecht das gefürchtete leere Klicken meiner Waffe zu hören und einem Rudel Untoter so gut wie hilflos ausgeliefert zu sein.
Wohl auch, weil Schusswaffengebrauch die einzige oder die einzig wichtige Form des Kampfs ist, interagieren die Protagonist:innen im REP nicht selten auf quasi professioneller Basis mit dem Bösen. Polizist:innen, Angehörige von Spezialeinheiten, (Ex-)Söldner:innen, Anti-Bioterror-Einheiten, Geheimagent:innen: So etwa sieht das Arsenal der fürs REP typischen Hauptfiguren aus. Persönliche Involviertheit (diese Schweine haben meine Tochter entführt!) ist zwar nicht ausgeschlossen, aber keinesfalls zwingend.
Vielleicht wird an dieser Stelle anschaulicher, weswegen man mit Recht (und Profit) vom Paradigma als einem Designzusammenhang sprechen kann: Was war zuerst, der professionelle Background der Hauptfigur, oder das Primat des Schusswaffengebrauchs? Ist eines davon ein story- und das andere ein gameplayorientiertes Element? Der Begriff ‚Paradigma’ soll gerade heissen, dass solche Fragen nicht wirklich weiterführen. Jedes Element bedingt in gewisser Weise jedes andere. Die einseitige Kausalkette, die wir hier mit Wörtern wie „Da“, „weil“ usw. schmieden, ist nur unser Werk und liesse sich auch in gegenläufiger Richtung entlangklettern, oder, um das Bild zu überdehnen, quer dazu.
Damit die Munitionsknappheit zu einer prägnanten Grösse wird, taucht das Böse im REP oft in reichlichen Mengen auf: dass man in einem Spieldurchgang sechshundert Zombies begegnet, ist nichts Ungewöhnliches; ebenfalls beliebt sind extrem zähe Gegenspieler:innen, die bergeweise Kugeln vertragen können, und Bossfights. Damit kann das REP der Genregrenze recht nahe kommen: Es ist ein kleiner Schritt von einem Primat des Schusswaffengebrauchs und einer hohen Gegnerzahl zu einem Bruch mit der Genreregel, dass der Kampf nie eindeutig vorteilhafter sein darf als die Flucht oder die Heimlichkeit.
Zu den Fetischen des REP – zu Gegenständen und Konzepten, die hier besonders obsessiv verhandelt werden – gehören neben den genannten Elementen wie Munition, Professionalität und Biotechnologiekonzernen etwa alte Häuser, Feuer, Genetik, bildende Kunstwerke und Künstler:innen, Schleim und Schleimigkeit, Schreibmaschinen und Klaviere, alles Unterirdische, veraltete Naturwissenschaft (aus dem 19. Jhd. oder früher; bei RE kontrastierend/ergänzend zur finanzkapitalistisch hochgepushten Wissenschaft einer Zukunft), Fenster, Helikopter, Kirchen, Zähne, Zungen und Tentakel, Menschenmassen, Tiere, öffentliche Plätze, auffällig bis spektakulär geformte Schlüssel, Parks und Gärten, Sümpfe, aussergewöhnliche Gebäude in Privatbesitz (Bohrinseln, Villen), Uniformen, splitternde Geräusche, das Meer, und Orte, an denen etwas hergestellt wird.

Silent Hill 2 (2001)
(2) Das Paradigma Silent Hill
Inbegriff dieses Paradigmas ist Silent Hill (Konami/PS1, 1999; original: サイレントヒル). Im Gegensatz zum Biologismus des REP hat der Horror hier einen psychologischen bzw. zwischenmenschlichen Ursprung. Statt von Viren usw. ist dieses Universum geprägt von Traumata, Schuldgefühlen, Phobien, Psychosen, und was das ICD sonst so hergibt. Das bedeutet unter anderem, dass der Schrecken hier im Vergleich zum REP stärker individualisiert, d.h. meist: stärker in direkter Relation zur Psychographie der Protagonist:innen, auftritt. Das wiederum heisst, dass die Monster in diesem Paradigma oft insofern ‚einfallsreicher’ wirken, als ihre Gestalt eine individuelle Angst oder einen individuellen Wunsch der Hauptfigur abbilden (ein wenig wie der Irrwicht aus Harry Potter, der jeder Betrachterin in Form dessen erscheint, was sie am meisten fürchtet, ergo: individualisiert). Die Monster im REP lassen sich oft einfach typisieren (Zombies, Mutanten, Werwölfe, Vampire), dieselbe Aufgabe gestaltet sich im Silent-Hill-Paradigma (fortan SHP) aus diesem Grund meist schwieriger.
Während die Monster im REP aufgrund von erfolgreichen oder schiefgelaufenen Experimenten in der Welt sind, sind sie es im SHP aufgrund von persönlichem Fehlverhalten oder von Irrtümern, oder aufgrund von psychischer Krankheit. Der Horror tendiert dazu, spezifisch gemacht zu sein für und von den Protagonist:innen. Während der Alptraum des REP gewissermassen einer über die Industrie ist, ist jener des SHP einer über das persönliche Verhältnis, insbesondere jenes der Fürsorge. Schwangerschaft und Nachkommen sind im REP potenziell angstbesetzt aus genetischen Gründen – was, wenn mein Kind ein Monster wird? –, im SHP aufgrund von sozialen Gründen – was, wenn ich mich meinem Kind gegenüber wie ein Monster verhalte? Die Klaustrophobie des REP besteht darin, dass die Gegner:innen mit grosser Wahrscheinlichkeit für denselben Konzern arbeitet wie ich selbst; im SHP darin, dass ich meine eigenen Gegner:innen bin. Das REP kennt im Grunde keine Sexualität, das SHP ist randvoll damit, kennt sie aber nur als gestörte.
Wie das SHP den Horror so in zwischenmenschliche Nähe rückt, wird diesem Horror vornehmlich oder sogar ausschliesslich im Nahkampf zu Leibe gerückt. Baseballschläger, Brechstangen und ähnliche Schlagwaffen ergänzen, was im REP der Revolver oder die Schrotflinte waren, und zwingen dazu, einem bereits intimen Schrecken in schmerzhafte Nähe zu kommen. Damit fällt das Munitionsmanagement als Aufgabe ein wenig zurück (allerdings nur da ganz weg, wo ein Game gänzlich auf Fernkampf verzichtet); davon abgesehen tendiert das SHP auch dazu, Management überhaupt zu erschweren, indem einem dafür zentrale Informationen vorenthalten werden – manchmal fehlt sogar die Anzeige, wie viel Lebenspunkte man noch besitzt: Wenig verwunderlich angesichts des Umstandes, dass diesem Paradigma ja das Thema gerade zentral ist, wie schlecht man sich selbst im Griff hat, auf wie viel Unbekanntes und Unheimliches man stösst, wenn man, um einen klassischen Game-Move psychologistisch aufzuladen, ‚das Inventar öffnet’.
Wohl auch, weil Schusswaffengebrauch eine verhältnismässig geringe, Intimität dagegen eine umso grössere Rolle spielt, begegnet man dem Horror im SHP so gut wie immer als Privatperson. Agentin Catherine Bluegrass seilt sich nach einem Chemieunfall in eine Stadt voll Zombies ab, um Person X zu evakuieren, das wäre REP; Bibliothekarin Valerie Sokal findet eines Abends im Archiv eine Tür, die vorher nie da gewesen war, und macht den grossen Fehler, sie zu öffnen: das ist SHP. Persönliche Involviertheit ist nicht nur zwingend vorhanden, sondern überhaupt erst der Grund des Schreckens. Wäre man nicht, wer man ist, und hätte man nicht getan oder erlebt, was man getan oder erlebt hat, der Horror wäre ein anderer – oder keiner. Da hingegen Munitionsknappheit eine nur optionale, oft irrelevante Grösse darstellt, ist die Anzahl der Monster oft deutlich kleiner als im REP. Da die Monster wiederum oft Bestandteile eines psychischen Komplexes sind, der sich als Ganzes auf Personen der Story bezieht, toleriert das SHP allerdings ebenfalls Bossfights (Ich, die Hauptfigur, habe ein schwieriges Verhältnis zur Sexualität! Also gibt es Monster, die entstellte, aber sexy angezogene Krankenschwestern sind; Monster, die offensichtlich schwanger sind; und Monster, die aussehen wie meine Mutter; und dann gibt es ein Monster, das einfach meine Partnerin ist: das ist der Bossfight).
Dass weniger oder sogar gar nicht geschossen wird, macht die Games des SHP tendenziell leiser als jene des REP. Der Lärm stört im REP allerdings nicht, weil das REP auf einer bestimmten Ebene stark dazu tendiert, seine Inhalte visuell zu transportieren: Nicht nur figurieren wie erwähnt die visuellen Künste prominent in der Konstruktion der spezifischen Atmosphäre – Statuen dräuen in dunklen Hallen, Gemälde starren wächsern in staubige Zimmer – sondern, wie Moser bemerkt hat, winden sich auch vertäfelte Korridore und Tunnels auf eine Weise dass, insbesondere im Zusammenspiel mit einer fixen Kameraperspektive eine ungute, escherhafte Geometrie sich an die nächste reiht, jeder Screen eine jener seltsamen Architekturen, die sonst nur im Hintergrund von Ölbildern aus dem 17. Jahrhundert und auf weitwinkligen Fotografien von riots des späten 20. Jahrhunderts zu existieren scheinen; und die Klangwelt ist im Grossen und Ganzen schlicht dazu da, diese visuell so gekonnt komponierte Welt zu unterstützen. Das SHP teilt sich die ungewöhnlichen Architekturen mit dem REP (tatsächlich sind ungewöhnliche Architekturen ein gemeinsamer Nenner aller drei Paradigmen, wie wir sehen werden), setzt aber nicht selten Akustik anders und, wenn man möchte, signifikanter ein. Während im REP die akustische Ebene oft schlicht verstärkt, was visuell kommuniziert wird, wird sie im SHP stärker als eigenständiges Medium eingesetzt, das eigene Inhalte transportieren kann. REP wird tendenziell ein brennendes Haus mit dramatischer, ein visuell als sicher ausgewiesenes Zimmer mit ruhiger Musik untermalen; das SHP dagegen gern ein sicher aussehendes Zimmer mit verstörender Musik, um die Gültigkeit des beruhigenden visuellen Eindrucks in Frage zu stellen. Und auch umgekehrt: Die Beliebtheit von Playlists wie „Silent Chill“, die Musik aus den Silent Hill-Titeln zu Entspannungszwecken anbieten, spricht für sich.
Zu den Fetischen des SHP gehören neben den genannten Elementen etwa Radio und Fernseher, Nebel, Elektrizität, Kaffee und Kaffeemaschinen, Strassen und Strassenschilder, Handschrift und Zeichnungen, Fotografie, Hemden, Zäune, Beton, Haustiere, Pflegeberufe, Erinnerungen, staatliche Gebäude (Spitäler, Schulen), Jalousien, Wälder, Kleidungsstücke, Augen, Ketten und Vorhängeschlösser, Pullover, unauffällige Schlüssel; Dinge, die aus Metall sind; Badezimmer, schabende und knirschende Geräusche, Flüsse und Seen, und Orte, an denen man sich nur vorübergehend aufhält.
Zwischenfazit (Safe Room)
Obwohl wir erst zwei von drei Paradigmen behandelt haben, scheint hier eine kurze Zusammenfassung angebracht. Wir haben gesehen, dass REP und SHP sich in verschiedenen Aspekten unterscheiden, und zwar ausschliessend; d.h., dass ein Game nicht sowohl gemäss REP und zugleich gemäss SHP designt sein kann. Ein Game kann nicht zugleich schusswaffenbasiert sein und keine oder nur kaum Schusswaffen zulassen, seine Hauptfiguren können dem Schrecken nicht zugleich in erster Linie professionell und in erster Linie privat begegnen, und der Horror kann nicht zugleich biologisch und psychologisch begründet sein. Was auf den ersten Blick wie eine Überschneidung der Paradigmen aussehen mag, lässt sich auf einen zweiten eindeutig zuordnen. Die Monster sind nur Halluzinationen? Ja, aber die Halluzinationen sind die Folge einer Virusinfektion. Die Monster zeigen Spuren ansteckender Geschlechtskrankheiten? Ja, aber das ist nur eine Metapher für das traumatische Verhältnis der Protagonist:innen zu Sexualität. Ersteres ist eindeutig REP, Zweiteres eindeutig SHP. Ein Gamedesign kann sich diverse Schleifen und Umwege erlauben, sich letztendlich aber einem der beiden Paradigmen zuschlagen lassen. Das bedeutet auch, dass man von bekannten Elementen eines Games mit guter Treffsicherheit auf unbekannte schliessen kann. Nehmen wir etwa, um es uns nicht gar zu einfach zu machen, ein etwas obskures Beispiel, nämlich Shiryou Sensen: War of the Dead (Victor Music Industries/MSX2, 1987; original死霊戦線). Wenn wir wissen, dass in diesem Game Nahkampf nur eine Notfalloption ist, können wir mit einiger Sicherheit darauf spekulieren, dass die Hauptfigur dem Schrecken professionell begegnet, weil Nahkampf als Notoption ein Element des REP ist und zum REP tendenziell die Professionalität der Hauptfigur gehört – und tatsächlich ist die Protagonistin des Games eine SWAT-Agentin. Wenn wir hingegen wissen, dass der Horror in Fatal Frame (Tecmo/PS2, 2001; original零 ) die Folge einer unglücklichen Liebe und einem damit in Zusammenhang stehenden dunklen Ritual ist, können wir mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass die Hauptfiguren Privatpersonen sind, und dass im Game kaum geschossen wird. Ersteres trifft zu, beim zweiten Aspekt ist Fatal Frame ein gutes Beispiel dafür, wie das Paradigma stark gedehnt werden kann, ohne aufzubrechen: Die Geister werden nämlich mit einem Fotoapparat (Fotografie ist, wie wir notiert haben, ein Fetisch des SHP) bekämpft – sie nehmen Schaden, wenn sie fotografiert werden. Ein Fotoapparat ist keine Schusswaffe, dennoch könnte man einwenden, dass er einer Pistole näher liegt denn irgendeinem Nahkampfinstrument. Nur: der Fotoapparat hat eine sehr geringe Reichweite und ‚verletzt’ die Monster umso stärker, je näher an der Linse, d.h. an den Protagonist:innen sie stehen. Der Intimitätsdiskurs des SHP, der sowohl den Horror als auch seine Bekämpfung an ein (emotionales oder topographisches) Nahestehen knüpft, bleibt also ungebrochen. Gewiss funktioniert dieser Schachzug nicht immer – die Paradigmen beschreiben Tendenzen, nicht Absolutes – aber man kann doch festhalten, dass die Paradigmen zwar oft gedehnt, aber nur sehr selten gebrochen werden.
Die Frage, auf welche Weise man sich wovor fürchtet, wird also vom REP und vom SHP je unterschiedlich beantwortet – und diese Frage hat immer auch einen normativen Charakter: Es ist auch die Frage, wovor man sich fürchten soll. Aus welcher Ecke muss man mit dem Horror zumindest in erster Linie rechnen? Entspringt er internationalen Superkonzernen und einer neofeudalistischen Kombination von Kapital, Armee und Big Pharma, einem military-industrial complex mit einem MA in Genetik? Oder entspringt er der eigenen Familie, der eigenen Liebesbeziehung, dem eigenen Gehirn? Ist Horror dann, wenn ich ihn mir fernhalten, oder ist es Horror dann, wenn ich ihm nahekommen muss? Begegne ich dem Schrecken vor allem im Beruf oder vor allem als Privatperson, und: beruflich in privaten Gebäuden oder als Privatperson in öffentlichen? Vertraue ich letzten Endes auf einen Menschen in Schutzkleidung oder auf einen Menschen im schmutzigen Unterhemd, fürchte ich mich eher vor Schlangen oder vor Hunden? Der grosse Gambit des Survival Horror zwischen REP und SHP – seine These, wenn man so will – besteht darin, dass all diese Fragen entweder stets mit der ersten oder stets mit der zweiten Option beantwortet werden. Es ist nur verständlich, dass angesichts dieser schroffen Entweder-Oder-Situation, dieser binären Opposition, der Wunsch nach einem Sowohl-als-auch aufkommen kann, nach einem Universum, worin der Schrecken zugleich aus Superkonzernen und aus der eigenen Psyche entsteht. Aber schon ein kurzer Blick auf das dritte Paradigma zeigt, dass es diesen Wunsch keineswegs erfüllen wird.

Clock Tower (1995)
(3) Das Paradigma Clock Tower
Dieses dritte Paradigma hat bislang die wohl geringste Anzahl Titel in seiner Nachfolge versammelt, entsprechend macht es Sinn, sich bei der Beschreibung sehr eng an den klassischen Titel zu halten, nämlich Clock Tower (Human Entertainment/SNES, 1995, original: クロックタワー). Nachdem einem ziemlich rabiat erzählt worden ist, dass die Protagonistin zusammen mit drei anderen Mädchen von einer reichen Person adoptiert worden ist, steuert man diese frisch adoptierte Hauptperson durch das Anwesen jener reichen Person, die man nie zu Gesicht bekommt. Hingegen realisiert man sehr schnell, dass man von einer kindlichen Gestalt verfolgt wird, die mit einer riesigen Schere ausgestattet ist und Jagd auf die Protagonistin (und ihre Freundinnen) macht. Der Spielinhalt besteht nun darin, dass man Gegenstände sammeln und Rätsel lösen muss, ohne dass das Scherenmännchen einen fangen und zerschneiden kann, bis – dank der gelösten Aufgaben – die Flucht aus dem Anwesen gelingt. That’s it.
Im Gegensatz zum REP und SHP mit ihren jeweiligen biologischen bzw. psychologischen Quellen hat der Horror hier – im CTP – keinen erklärten Ursprung. Die Gestalt mit der Schere ist da, weil sie da ist, und sie jagt einen, weil das eben das ist, was sie tut: Leute jagen. Oder Mädchen jagen. Oder nur diese vier Mädchen jagen, man weiss es nicht. Man erfährt nichts über ein Virus, nichts über ein Trauma. An Storyfetzen aufzuspüren gibt es nur den Bruder des Jungen mit der Schere: ein riesiges, aufgeblähtes, violettes und fast bewegungsunfähiges Monstrum in einem Keller – und, aus absolut unerklärlichen Gründen, und nur wenn man sehr viele Rätsel auf die richtige Weise gelöst hat, den verstorbenen Vater der Hauptfigur, dessen Leichnam zwar die riesige und unlösbare Frage eröffnet, was in aller Welt er in diesem Anwesen verloren hat, bei dem man aber einen Brief (das einzige echte found document dieses Games, im krassen Gegensatz zum REP, wo alle obsessive Tagebuch- und Notizschreiber:innen sind und dann erst noch alles rumliegen lassen) findet, in dem überhaupt erst steht, dass das violette Wesen im Keller der Bruder des Knaben mit der Schere ist. Findet man den Vater nicht, erfährt man noch nicht einmal das. Es gibt keine Gründe, weshalb irgendetwas in diesem Game da ist, wo es ist, ausser eben, dass es da ist, wo es ist.
Gegen dieses grundlose Böse wehrt man sich gar nicht. Das CTP kennt weder die Schusswaffen des REP noch die Schlagwaffen des SHP, sondern nur die Flucht und das Versteck. Wird die Protagonistin vom Knaben mit der Schere eingeholt, tötet er sie, ohne Möglichkeit zur Verteidigung. So grundlos der Schrecken, so wehrlos die Spieler:innen. Einen Grund gibt es nur für den Namen der Protagonistin, aber der liegt ausserhalb der Welt des Games: Sie heisst Jennifer, weil sie aussieht wie Jennifer Connelly. Kein Scherz. Es ist eine Welt der Labore, in denen keine Wissenschaft betrieben wird, und der Villen, die nicht bewohnt werden; der Räume, in denen man sich nicht aufhalten kann, der Masken, die bereits das Gesicht sind.
Es ist offensichtlich, dass dieses dritte Paradigma keine wohlige Synthese der ersten beiden liefert, dass es an jenem gnadenlosen Dualismus nichts ändert. Statt REP und SHP zu kombinieren oder sonstwie ein positives Drittes anzubieten, offeriert es nur das, was man gewissermassen die Verneinung aller Parameter nennen könnte. Es gibt keine Psychen, keine Polizei, keine Traumata, keine Biologie, keine Industrie, keine Wissenschaft. Es gibt keine Ökonomie, weil es keine Ressourcen gibt. Es gibt nur Korridore ohne Gebäude, die in schwarzen Löchern ohne Physik verenden. No direction home.
Die drei Paradigmen heissen also: Resident Evil, Silent Hill, und Clock Tower. Alle drei Titel werden dem Survival Horror nicht nur zugeordnet, sondern können mit Recht von sich behaupten, das Genre in entscheidendem (wenn auch je unterschiedlichem) Masse beeinflusst zu haben. In anderen Worten: Jedes dieser drei Games hat einen Vorschlag gemacht, wie Survival Horror aussehen könnte; und dieser Umstand ist nicht nur deswegen interessant, weil alle drei Vorschläge sich als einflussreich erwiesen haben, sondern auch, weil sie sich gegenseitig ausschliessen. Ein Game kann nicht gleichzeitig wie Resident Evil und wie Silent Hill sein, weil die Designeigenschaften von RE nicht zugleich erfüllt werden können wie jene von SH. Ein Game im Stil von Resident Evil herzustellen bedeutet, nicht eines herzustellen, das wie Silent Hill ist, und eines herzustellen, das wie Silent Hill ist, bedeutet, nicht eines herzustellen, das wie Clock Tower ist. Dieses gegenseitige Ausschlussprinzip begründet, weshalb man von drei unterschiedlichen Paradigmen sprechen und identifizieren kann, welches Game in welchem funktioniert.
Damit ist hoffentlich viel darüber gesagt, wie das Genre Survival Horror strukturiert ist, aber wenig darüber, wie die Games aussehen werden, die sich in Zukunft darin einreihen werden, und schon gar nichts darüber, was ein Game erfüllen müsste, damit man es als Survival Horror bezeichnen kann. Rein gar nichts also wird den Purist:innen zugestanden. Im Gegenteil haben wir vielmehr demonstriert, dass ein Blick zurück – quasi in den Mythos hinein – nicht eine Einheit eröffnet, die man gegen das Chaos neuerer Games in Stellungen bringen könnte, sondern zeigt, dass das Genre von Anfang an mindestens drei verschiedene Dinge gewesen ist.
Gleichzeitig ist unser Argument nicht eines dafür, den Begriff Survival Horror fallen zu lassen. Die drei verschiedenen Paradigmen sind eben das: verschieden, aber zugleich interagieren sie auf eine Weise, die „Survival Horror“ durchaus als Genre zu verstehen erlauben – aber nur, wenn man ihn nicht als eine normative Kriterienliste versteht, sondern als einen Überbegriff, mit dem man das innere und gegenseitige Spiel jener drei Paradigmen beschreiben kann. Deswegen kann man, obwohl es drei verschiedene Paradigmen sind, sehr wohl von einer Geschichte des Genres ‚Survival Horror’ sprechen, nur bedeutet diese Geschichte die Interaktion dreier durchaus sehr unterschiedlicher Anlagen.
Um zu zeigen, was das heisst, müssen wir aber diesen rein systematischen Blickwinkel verlassen und die Geschichte des Genres betrachten – was wir im nächsten Artikel tun werden.
Das Horror-Special auf FreiesFeld: Die Artikel im Überblick
- Survival Horror IV: Resident Evil (Camera Lucida)
- Survival Horror III: Footsteps Approaching
- Survival Horror II: Das A und das O
- Survival Horror I: Drei … Paradigmen (liest Du gerade)
- Mutiertes Erzählen
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