Von JÁNOS MOSER.
Das Genre der japanischen Role Play Games (kurz RPGs) erlebte in den letzten Jahren viele Umschwünge. Da die für die Spiele typischen starren Mechanismen in der heutigen Spielelandschaft als überholt gelten, versuchte man sich an mehr actionorientierten, schnellen Kampfsystemen (das jüngste Beispiel: Final Fantasy XIII), in Schlauchleveln erzählte Storys oder Gameplay mit Missionen (Resonance of Fate). Ob zu Recht oder Unrecht – das „klassische“ RPG steckt in einer wie so oft heraufbeschworenen Krise, die vor allem die alten Hasen geschürt haben, die mit den Neuerungen nichts anfangen können. Von mancher Seite wird gar vom Tod des RPGs gesprochen – doch so weit soll es hier nicht kommen. Vielmehr zieht die genannte Debatte die Frage nach sich, was denn überhaupt unter einem „klassischen“ japanischen RPG verstanden wird, und ob die wie auch immer geartete „Tradition“ wirklich verlorengegangen ist oder nicht. Was machen Spiele wie Dragon Quest, Xenogears, Legend of Dragoon, Wild Arms oder Breath of Fire aus? Sind es die Hitpoints? Der Wechsel in einen Kampfbildschirm? Die Heldentruppe? Oder die Drachen? Und was sind überhaupt Hitpoints? Wer knapp weiss, wer oder was Pikachu ist, kann mit Details wie diesen wenig anfangen. Um die soll es auch gar nicht gehen. Im Gegenteil: betrachtet man das grosse Ganze, schimmert aus der Masse von Stats, Limittechniken und Critical Hits weniger das Technische hervor, als vielmehr der starke Hang dieser Spiele, Geschichten zu erzählen. Geschichten, wie sie „moderne“ RPGs scheinbar einfach nicht mehr so gut rüberbringen, weil zu hektisch. Kaum ein anderes Videospielgenre hat sich auf das narrative Element so spezialisiert, welches wiederum im stetigen vermeintlichen Widerstreit mit dem Rest des Spiels steht. Wie erzählen japanische RPGs ihre Geschichten? Und was für Geschichten sind das?
Rebellen
Die Geschichte des Genres selbst beginnt nicht an diesem Punkt – sie könnte es aber. Um das Jahr 1995, am Vorabend des Erscheinens der Playstation 1, fordert die Spieleschmiede Konami den Entwickler Yoshitaka Murayama dazu auf, ein Spiel zu entwickeln, welches überdies der erste Teil einer ausbaufähigen Spielereihe werden sollte. Murayamas Wahl fällt auf das RPG-Genre – bei den Erfolgen solcher Games auf dem SNES und anderen Konsolen kein Wunder. Da er jedoch den Fokus nicht nur auf einem Hauptcharakter halten, sondern auch die Nebencharaktere in das rechte Licht rücken will, wählt er als Basis für seine Idee – und als Verdeutlichung gegenüber seinem Vorgesetzten – den klassischen chinesischen Roman Die Räuber vom Liang-Schan-Moor. Der Chef war begeistert, das Projekt wurde abgesegnet, die Suikoden-Reihe war geboren. Suikoden? So und nicht anders lautet die japanische Übersetzung des chinesischen Stücks Literatur. Ein Spiel, welches sich zur Abwechslung mal auf keinen Comic gründet, sondern auf einen Roman, ist schon beachtenswert genug; worum es in Die Räuber vom Liang-Schan-Moor geht, ist ausserdem bezeichnend für das Genre. Das Volksbuch aus dem 14. Jahrhundert (und neben Der Traum der roten Kammer, Die Reise nach Westen und Die Geschichte der drei Reiche einer der vier wichtigen alten Romane der chinesischen Literatur) schildert das Geschick einer Rebellenarmee, bestehend aus über hundert ehrenhaften Anführern. Diese scharen sich um den gelehrten Song Jiang, der Opfer von korrupten kaiserlichen Beamten und Soldaten wurde und gegen die Regierung aufbegehrt, indem er den Reichen nimmt und den Armen gibt – seine Rolle ähnelt derjenigen eines Robin Hood. Erzählt wird im Einzelnen das Leben und die Motivation von 36 Anführern und 72 Unterführern, wobei keiner zu kurz kommt. Namenlos bleiben dafür die etwa 30`000 Anhänger der 108 Führer, die in einer Bergfeste am Moor hausen. Wäre ja auch zu viel des Guten gewesen. Kurz und knapp: Sie sind Bauern, Fischer, Kaufleute, Beamte, ehemalige Offiziere, Landadelige, Mönche, Frauen oder sogar Räuber. Den historischen Kontext des monumentalen Erzählwerks bildet der Bauernaufstand gegen die Song-Dynastie zur Zeit des Kaisers Huizong (1082 – 1135). Wie viele frühe Texte ist auch dieser ein Abkömmling von mündlicher Überlieferung und gelangte über viele Umwege in die heutige Form. Die bis heute ca. 12 Übersetzungen ins Japanische zeugen von einer ungebrochenen Popularität im Land der roten Sonne. Die Geschichte um die legendären Geächteten im Kampf gegen Misswirtschaft, Korruption und Unterdrückung in Form eines spannenden Abenteuerromans übt auch zweifelsohne ihren Reiz aus. So sehr, dass sich 1989 Videospiel-Obskuritäten wie Bandit Kings of Ancient China von Koei an die Geschichte anlehnten. „Anlehnen“ ist auch im Fall Suikoden mehr als zutreffend, denn die Reihe ist nur lose an den Roman gebunden, und im Kampf der 108 rekrutierbaren Helden gegen Drachen und Monster vergisst man die Bauern, Fischer und Kaufleute schnell. Überhaupt wäre es zu weit hergeholt, die Geburt des RPG-Genres nur in diesem Buch zu suchen, zumal (wie bereits erwähnt) solche Spiele schon vor Suikoden existierten. Dennoch; jeder, der einmal ein RPG gespielt hat, erwittert sofort Gemeinsamkeiten: Eine Riege von starken Persönlichkeiten, die sich zusammenschliessen, eine böse Übermacht, Rebellen. Fasst man die Zeit enger, findet man weitere Beispiele, die als Markstein in der japanischen RPG-Geschichte gelten. Dem Fortsetzungsroman Record of Lodoss War (ab 1988) wird ein nicht unwichtiger Einfluss auf das Genre zugesprochen. Wieder geht es um eine Gruppe von unterschiedlichen Helden, die sich zusammenschliessen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Der erste Band einer der Manga-Versionen (Record of Lodoss War: Die Chroniken von Flaim) könnte bezeichnender nicht beginnen: Als der königliche Schatz von Dunkelelfen gestohlen wird, wird Spark, ein junger Knappe, der vom Ritterdasein träumt, ausgeschickt, um die Kleinodien wieder zu beschaffen. Zum Glück unterstützen ihn dabei vier Macker (Barbarenkrieger, Magiermönch usw.). An der „Wiedergeburt der dunklen Göttin Kardis“ (Klappentext) werden aber auch sie die Zähne auszubeissen haben. So viel zur Disposition. Doch halt: seit wann kamen Elfen, und Magie ins Spiel? Richtig: Record of Lodoss War ist ein Kind der Globalisierung und deshalb vom modernen westlichen Fantasyroman wohl ebenso beeinflusst wie von der Tradition der Liang-Schang-Räuber. Und nach den japanischen Umsetzungen der westlichen Rollenspiele Wizardry und Ultima kamen auch schon bald die ersten östlichen Konkurrenten: Final Fantasy und Dragon Quest.
Mischung
Was ein japanisches Rollenspiel ausmacht, ist also mit grosser Wahrscheinlichkeit jenes Erfolgsgeheimnis, das man „die gute Mischung“ nennt. Wir sind mit Michael Moorcock, Ursula K. Le Guin, Tolkien und Marion Zimmer Bradley aufgewachsen, und ein klugscheissender Germanist würde auf Tristan verweisen. Die Japaner mögen legendenhafte Räuber. So eng ist das auch gar nicht zu sehen: Immer geht es um Mythen, um das Geheimnisvolle, um Magie und alte Geschichten und Legenden, an die niemand mehr glaubt, die sich am Schluss jedoch trotzdem immer als wahr herausstellen. Insbesondere geht es um Helden. Ob es nun 108 sind oder weniger, spielt letzten Endes keine Rolle. Meistens sind es weniger, und diese (zielgruppengerecht: Teenies) haben immer bestimmte Gründe, sich Song Jiang bzw. einem Haupthelden anzuschliessen. Zusammen besiegen sie eine böse Bedrohung und retten eine mittelalterliche oder futuristische Fantasiewelt. Und während sie all die unzähligen Gefahren bestehen, wachsen sie. Sei es körperlich, seelisch oder im Level. Mögen sie noch so stereotyp sein – die Japaner räumen jedem Helden seine fünf Minuten Ruhm ein; wie bei den Räubern. Der eine hatte eine dunkle Vergangenheit, der andere möchte eine Frau rumkriegen, und wieder andere möchten das grosse Geld machen. Ein hoher Grad an Individualität, zusätzlich bedingt durch die in westlichen RPGs geschaffenen Charakterklassen wie Mönch, Krieger, Dieb oder Magier, ist die Trumpfkarte in Sachen Charakterentwicklung. Die Geschichten, die japanische RPGs erzählen, sind im gewissen Sinn moderne Kunstmärchen. Und da die aus Ultima entwickelten Spielregeln gelten, sind diese Märchen nicht an Hoffmansthal oder Tieck orientiert, sondern an gewissen Konventionen, die nicht zuletzt dem Gameplay dienlich sind. So kontrolliert man im Kampf selten mehr als vier Charaktere – alles andere wäre unübersichtlich. Der Hauptcharakter ist im Verlauf der Geschichte kaum je weg vom Fenster – oder er hätte am Ende des Spiels ein zu niedriges Level. Das gilt übrigens auch für die Nebenhelden; die Truppe mag sich ab und zu trennen, aber daraus soll im Optimalfall kein Nachteil für den Spieler entstehen. Die Kräfte der Helden sollen auch relativ ausgeglichen sein. Der schmalbrüstige kann vielleicht kein Schwert führen, dafür starke Magie einsetzen. Abgesehen von diesen Einschränkungen gibt es während der rund 30-40 Stunden, die so ein Spiel dauert, genügend Zeit für die Entwicklung einer interessanten Geschichte. Mehr noch: Manche RPGs nehmen es sich heraus, das Abhängigkeitsverhältnis umzukehren und die Geschichte über das Gameplay herrschen zu lassen – und das ist der spannende, springende Punkt. Japanische Dauerbrenner wie Tempel, Geister oder Amulette dürfen hierbei natürlich nicht fehlen. Und Tiermenschen.
Breath of Fire 2
Welcher spezifischen historischen japanischen Eigenart die Helden aus Breath of Fire 2 (1993, SNES) entsprungen sind, vermag wohl nur ein Kenner des Landes zu sagen. Hier geht es auch nicht um zoologische Studien. Anhand einer Betrachtung dieses RPGs lässt sich jedoch wunderbar zeigen, wie stark der Fokus auf die Erzählung, das fast schon Romanhafte, das Gameplay beeinflusst. Erzählen: Wie dieser Begriff im Kontext der Videospiele aufgefasst werden soll, ist ja immer eine Streitfrage. Hier beschränken wir uns auf eine einfache Unterscheidung. Alles, was in den Cutscenes passiert (also die Szenen, in denen der Spieler keine Kontrolle über die Figuren hat), gehört zum Erzählten, und alle Aktionen, die vom Spieler selbst ausgeführt werden (wie die Kämpfe), schieben wir in die Gameplay-Ecke. Logisch, dass sich diese beide Ebenen auch mal überlagern – davon gleich mehr. Breath of Fire 2 führt uns schon zu Beginn vor, was es heisst, erzählerische Konventionen einigermassen ernst zu nehmen. Wir sehen einen alten Mann in einer Kirche, der nach einem Jungen schreit. Alles, was der Spieler bislang zu tun hat, ist, ein paar Textboxen bzw. den Monolog wegzuklicken. Eine erste Verwirrung entsteht durch die graue Darstellung des Geschehens. Ist der Fernseher kaputt? Oder liegt es an der Konsole? Nein. Man siehe und staune: BoF2 gibt auf diese Weise zu verstehen, dass das, was gerade passiert, eine Rückblende ist. Nachdem der kleine Monolog zu Ende geht, wechselt die Szene in den oberen Teil der Kirche, wo ein kleiner Knirps in einem ärmlich eingerichteten Zimmer steht. Nochmals erscheint die Textbox; der Vater ruft nach dem Sohn. Endlich ist es so weit und der Spieler übernimmt die Kontrolle über das Kind. In weiser Voraussicht dirigiert man den Kleinen in den unteren Stock, wo zuvor der Vater stand. Prompt empfängt dieser einen am Fuss der Treppe. Ein neuer Dialog – der alte Knacker bittet mich, die verschwundene Schwester zu suchen. Gut. Also auf geht`s, raus aus dem Haus und rein ins dörfliche Leben. Ich streife umher, unterhalte mich mit den Einwohnern, wobei mir allmählich klar wird, dass ich ein einfacher Pfaffensohn bin. Na dann. Es gibt Schlimmeres. Doch warum versperrt mir dieser dämliche Busch den Weg? Und warum wartet dieser Volltrottel von Dorfbewohner genau vor dem Eingang des Dorfes, als wäre es zu gefährlich, rauszugehen? Klare Sache: Es ist zu gefährlich, denn wie jeder weiss, lauern draussen die Monster. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als es wieder mit dem Busch zu versuchen. Er will einfach nicht weg. Den Frust mühsam niederkämpfend, unterhalte ich mich erneut mit den Dorfbewohnern. Eine nette Frau gibt mir den Hinweis, meine kleine Schwester würde häufig „hinten bei den Bergen“ spielen. Da der Busch allem Anschein nach den richtigen Pfad verbirgt, versuche ich es eben noch einmal. Und siehe da: er verschwindet. Für RPG-Veteranen ist das alter Kuchen, Neulinge beissen sich daran erst einmal die Zähne aus: Ein RPG versucht eine innere Erzähllogik zu wahren, und das auch um den Preis des Gameplays. Soll heissen: Erst, wenn ich im Gespräch erfahren habe, dass da ein Pfad ist, wird dieser überhaupt begehbar. Und oft erst, wenn die Geschichte mir vorgaukelt, ich sei stark genug, kann ich mich den Zufallskämpfen ausserhalb des Dorfes stellen. Ein solcher folgt auch wenige Schritte später. Ein blaues, stacheliges Etwas springt aus dem Dickicht und greift mich an. Das Spiel wechselt von der Vogelperspektive in die seitliche Kampfansicht. Alles, was ich zur Verteidigung habe, sind zwei mickrige Holzstöcke. Gottverdammt, nein. Das Vieh zieht mir immer mehr Leben ab. Bald sterbe ich. Bis eine Reihe von Blitzen niederfährt und das Monster grillt. Pfaffe sei Dank, mein Vater hat mich im letzten Moment gerettet. Das musste einfach so kommen. Halt, wie war das? Sollte ich in den Kämpfen nicht immer freie Hand haben? Wo ist das Gameplay, das man mir versprochen hat? Wie gesagt; so einfach ist es eben nicht immer. Wenn die Entwickler wollen, dass ich einen bestimmten Kampf verliere, verliere ich ihn, und wenn sie mal einen guten Tag haben, gewinne ich vielleicht einen. Klingt schlimm? Ist es nicht, denn zum Glück hat BoF2 nur wenige dieser berühmt-berüchtigen geskripteten RPG-Kämpfe. Schön und gut, ich bin gerettet, weiter geht`s. Die kleine Schwester sitzt vor einem riesigen schlafenden Drachen, der ein ominöses Tor verschlossen hält. Wie ich aus dem folgenden Gespräch erfahre, bewacht der Drache das Tor zur Unterwelt, woraus vor einigen Jahren Monster strömten und das Dorf angriffen. Bei diesem Angriff kam die Mutter des Jungen ums Leben, und der Vater macht sich Vorwürfe, weil er sie nicht zu retten vermochte. Ziemlich traurig. Nach ein paar letzten Wortwechseln gehen Vater und Schwester wieder ins Dorf, ich bleibe beim schlafenden Drachen zurück. Hm. Was jetzt? Abhilfe schafft eine Textbox: „Willst du deine Augen schliessen?“, steht da. Ja, warum nicht, wollte ich schon immer mal. Der Bildschirm wird schwarz und ein bedrohliches, starrendes Auge pulsiert in der Mitte. Na wenn das mal kein angenehmer Traum ist. Ich öffne die Augen wieder und es ist unheimlich still geworden (ergo die Hintergrundmusik ist weg). Beunruhigt gehe ich zurück ins Dorf und rede mit den Leuten. Oh Schreck: Niemand scheint mich mehr zu kennen, und in der Kirche wohnt auf einmal ein völlig fremder Priester, der mich für eine Waise hält und mir Unterschlupf gewährt. Während ich mir noch Gedanken darum mache, wohin die Familie verschwunden sein könnte, weckt mich ein Typ, der irgendwie wie ein Hund aussieht. Wenn mich nicht alles täuscht, würde ich sogar sagen, der ist ein Hund. Whatever. Er klaut ein paar Wertsachen und schlägt mir vor, mit ihm mitzukommen und ein Diebesleben zu führen. Ja oder nein? Das Spiel lässt mir hier keine Freiheit. Also verschwinden der Hundetyp und ich aus dem Dorf und schlagen uns zu einer Höhle durch. Unglücklicherweise haust dort ein riesiges Monster, das mir irgendwas von wegen „Du bist der Auserwählte“ vorkreischt und mich bewusstlos schlägt. Mein in Erzähltechniken geschultes Ich flüstert mir vor, dass dies das Ende sei. Das Ende wovon? Des Prologs. Und Recht habe ich. Eine verheissungsvolle, magische Schnörkelschrift scrollt langsam über den Bildschirm, im Hintergrund ist ein dunkler Turm zu sehen. Dann: Zehn Jahre später. Der Hundetyp und schlagen sich als Ranger durchs Leben und erhalten den Auftrag, ein Schweinchen zu retten. Doch das soll erst der Anfang zu weitaus bedeutenderen Ereignissen sein …
Bausteine
Das vorangehende Beispiel des BoF2-Prologs hat bereits ein paar Techniken angeschnitten, mit denen eine RPG-Geschichte vorangetrieben wird. Darunter waren geskriptete Kämpfe, Ereignisse, die nur unter bestimmten erzähllogischen Vorbedingungen stattfinden, Dialoge, Graustufen während einer Rückblende, Träume, lange Texte oder Aufgaben (Quests) wie „Finde deine Schwester“. Sind all diese Mittel nur in einem Videospiel anzutreffen? Natürlich nicht. Die meisten Dinge sind, so profan es klingt, uralte Erzähltricks, die man auch findet, wenn man ins Kino geht oder ein Buch aufschlägt. Das soll BoF2 jedoch nicht schaden. Im Gegenteil. Der Prolog mit seinen vielen Vorausdeutungen macht Lust auf mehr. Da macht es auch keinen Unterschied, ob Gameplay und Erzählung sich einander ab und zu im Weg stehen (siehe das Busch-Beispiel) oder wir den Hundetyp nicht leiden können. Im Folgenden treffen wir nämlich mehr Charaktere und das Spiel entwickelt sich zu einem sehr unterhaltsamen und interessanten Spektakel. Alsbald stellt sich heraus: Gameplay und Erzählung wirken nicht nur gegeneinander, sondern auch miteinander, und das sind die Kniffe, die nur ein RPG bietet. Sind wir zuerst mit Schweinchen beschäftigt, bekämpfen wir später zum Beispiel Chimären oder andere gefährliche Monster. Also: Je mehr Zauber meine Charaktere lernen und je stärker sie werden, desto fataler wird das Geschehen, und der lange Kampf gegen den Endboss ist im Grunde ein banger Höhepunkt, wie ihn in dieser Intensität (schweissige Hände bei jedem Angriff) kaum ein Buch nachahmen kann. Zwischen Spieler und Erzählung stehen zwar Protagonisten, doch ertappen wir uns nicht manchmal dabei, den A-Knopf zum Angriff besonders heftig zu drücken, wenn dieses verdammte Tentakelmonster ein Dorf ausgelöscht hat? Die Grenzen zwischen dem, was gespielt, und dem, was erzählt ist, sind selbst in vermeintlich „undynamischen“ Spielen so fliessend, dass man sich ewig damit befassen könnte. Darum soll an dieser Stelle auch nicht mehr davon gesagt werden.
Dunkle Machenschaften
Der Prolog ist durch. Was erzählt BoF2 denn nun für eine Geschichte? Eine ziemlich gute, wenn auch für RPGs typische: Blauschopf Ryu (der Hauptheld) schart nach und nach fantasievolle Charaktere um sich und erfährt im Kampf gegen immer üblere Brocken allmählich von den dunklen Machenschaften einer St. Eva-Kirche, die Werkzeug einer noch viel dunkleren Macht ist. Besonders schön ist das Thema abgerundet, als Ryu herausfindet, dass das Böse, hinter dem er her ist, den Ursprung ausgerechnet im Dörfchen Gate hat – dem Ort, aus dem er und sein Kumpel verschwanden, als sie noch Kinder waren. Ist da noch etwas von Son Jiang zu finden? Eine schwierige Frage. Wie die meisten RPGs ist das Spiel eine moderne, fröhliche Mischung aus westlichen und östlichen Mythen und Märchen. Wir finden asiatische Tempelglocken ebenso wie entlaufene Prinzessinnen, Grimm`sche Froschkönige, Katzendamen oder Medusen. Dungeons aus Ultima und Transportmittel aus Final Fantasy. Als eines der wenigen japanischen RPGs hatte BoF2 das Glück, eine deutsche Fanübersetzung zu erhalten, was von Popularität hierzulande zeugt. Die starke Anlehnung an die (nicht nur) in Japan so beliebte Heldenthematik ist nicht zu übersehen. Die Erzählung bemüht sich um Tiefe; Es gibt kaum einen Charakter, der keine spezielle Vergangenheit, irgendeine Macke oder sonstwas hat, das ihn von allen anderen unterscheidet. Zusammen mit den effektvollen Kampfattacken, der guten Musik, den zusätzlichen Features wie dem Kochen oder dem Städtebau ein Rezept für ein gelungenes Spiel. Die Ansprüche, die RPG-Fans stellen, sind hier noch vollständig erfüllt und es gibt keinen Grund zu klagen. BoF2 ist durch und durch „klassisch“. Die Kämpfe sind nicht hektisch, die Weltkarte ist offen und zahlreiche Geheimnisse und Sidequests warten darauf, entdeckt zu werden.
Nostalgie
Geheimnisse, Sidequests, offene Weltkarte? Wäre das, was ein RPG alter Schule ausmacht, in diesen Punkten zusammengefasst, hätten wir es uns zu leicht gemacht. Nein; was BoF2 gegenüber neueren RPGs abgrenzt, ist wohl einfach das, worauf diese Ausführungen hinauslaufen sollten: Die Art, wie die Geschichte eines RPGs erzählt wird, hat sich verändert. Woran das liegt, ist schwer zu sagen. An Uncharted? Resident Evil 6? Ich bin kein Fan von blinder Nostalgie. Nur, vielleicht wünschen sich manche einfach ein wenig die Zeit zurück, die ein RPG brauchte, um die Helden und die Welt zu entwickeln. Vielleicht wollen wir alle einfach nur mehr Pixel und Märchen.
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