Freies Feld

Mit Verlusten umgehen. Zur Let’s Play-Debatte

Von CÉDRIC WEIDMANN.

János Moser hat bereits bemerkt, dass Let’s Plays ein Bedürfnis befriedigen, das Videospiele hervorrufen: Eine Rückbesinnung auf nicht-interaktive Erzählformen, besonders aufs Erzählen. Indem man einem Let’s Play zuschaut statt selber zu spielen kann man den Moderatoren lauschen und die Interaktivität deligieren.
Aber das ist noch nicht alles. Denn etwas Ähnliches kennen wir, wie János auch erwähnt, in Walk-Throughs und in handlungsschweren Spielen, die lange Zwischensequenzen oder Dialoge einbauen, die das eigentliche Spielen verhindern. Und wir kennen etwas Ähnliches in anderen Formen der Game-Videos: Etwa der E-Sport-Übertragungen oder den Speed-Runs, die Youtubeklassiker werden. Hier überall wird Interaktivität gegen passive Teilnahme ausgetauscht.
Worin aber besteht der spezifische Unterschied der Let’s Plays zu diesen anderen Filmformen?

Die vergessene Schattenseite des Spiels

Es gibt eine soziologische Komponente, die dieses Format viel wichtiger macht als andere. Es ist nämlich eine vergessene Tatsache, dass von den Millionen Spielstunden, die bereits verbracht worden sind, ein nicht unerheblicher Teil doppelt zu zählen ist: für einen, der spielt, und einen, der zuschaut. Zu meiner Zeit jedenfalls gehörte stundenlanges Zuschauen und Zuschauenlassen zum Begriff des Spiels, gerade des Einzelspielerspiels, dazu.
Dieses Potenzial müssen Spiele also haben und sie müssen es schon immer gehabt haben, auch wenn ausser Frage steht, dass jeder lieber mitspielt als zuschaut. Erst im Zuge des Nintendo 64 und schliesslich der Playstations, kamen mehr Split-Screen-Spiele auf den Markt. Diese Tendenz scheint, betrachtet man insbesondere die Xbox, heute rückläufig zu sein, und es gibt wieder mehr Einzelspiele und Onlinespiele — aber keine Split-Screen-Spiele. «Einzelspiele», an denen nicht allzu selten wohl einer oder eine daneben Anteil haben muss, ohne den Controller in der Hand zu halten. Das will gelernt und wertgeschätzt sein. Das Zuschauen war ja meistens immer noch besser, als alleine zuhause zu sitzen. Gamen war selten die einsame Tätigkeit, als die man sie darstellt. Aber man stelle sich nur vor, wieviele zehntausende Kids jetzt auf einem Sofa sitzen und zuschauen, wie die Schwester sich hochlevelt.
Let´s Plays machen dieses Phänomen zum Programm: Man hat die Geselligkeit, den persönlichen Bezug zum Spieler. Es ermöglicht aber auch diese Gemeinschaftlichkeit, die aus dem Überlassen des Interagierens entsteht, in Zeiten zu geniessen, wo man sich nicht mehr trifft, um jemanden spielen zu lassen und zuzuschauen. Ähnlich wie man Japanerinnen zahlen kann, um ihnen beim Essen zuzuschauen. Man will die Dinge zwar deligieren, aber doch nicht ganz alleine machen: Man will dem Deligierten bei seinem Ausgeführtwerden zuschauen.

Die Abschaffung (Let’s play, my ass)

Es gibt aber auch eine philosophische Komponente der Let’s Plays, die mehr darstellen als eine Rückkehr zu nicht-interaktiven Kunstformen wie der Literatur. Ich habe hier an mehreren Orten festgestellt, dass Spiele dazu neigen, sich abzuschaffen: Sie wollen eigentlich nicht gespielt werden. Man programmiert Makros, um seine Tasten zu drücken, man macht In-App-Käufe, man cheatet, man wird zum Gott eines zeitlosen Werks, der gar nichts beeinflussen kann.. Entweder handelt es sich um ein Game/play-Paradox, wenn man optimistisch davon ausgeht, aus dem Game werde ein Play, ein Spektakel ohne Interaktivität: Also eine andere Form des Spiels, ein Schauspiel. Mit dieser Erklärung kann man auch das Programmieren eines Spiels als Spiel bezeichnen und kann sowas wie eine panludistische Weltsicht vertreten.
Oder, und das wäre die andere Erklärung, es handelt sich um eine Selbstzerstörung, um eine Bewegung zur «Singularität», wie es der umstrittene Philosoph Nick Land bezeichnet. Durch ständige Beschleunigung kommt die Gesellschaft so an einen Punkt der völligen Zerstörung, der Überwindung des Menschen, des totalen Stillstands. Videospiele haben diese Tendenz: Das sieht man am besten daran, dass es vor allem Rennspiele sind, die in Let’s Plays besonders erfolgreich sind. Das rasende Fahren wird zu einem interesselosen Wohlgefallen, zu einer Art Kaminfeuer oder Aquarium, umgewandelt, welches man betrachten kann, um umso besser zuhören zu können. In der Geschwindigkeit der schnellen Spiele findet sich eine Ruhe — so wie zu einem Hörbuch Mandala zeichnen — in die man sich versenken kann. Dies trifft auch für den Zuschauer zu, der bei einem Spiel danebensitzt und von der rauschenden Fahrt hypnotisiert wird. Er weiss, wo er hinschauen muss, ohne dass er von da Grosses zu erwarten hat.

János Moser wäre also hinzuzufügen: Nicht nur sind Let´s Plays der Ausdruck einer Rückbesinnung auf nicht-interaktive Formen, sondern sie machen etwas erfahrbar, was zum Spielen dazugehört, aber in einer MMOG-Welt in Vergessenheit geraten ist: dem gewöhnlichen Spielen zuschauen. Vielleicht sind Let´s Play keinen Schritt zurück zu nicht-interaktiven Kunstformen, sondern sie stellen eine Erweiterung der nicht-interaktiven Kunstformen dar.

Das Video «Mit Verlusten umgehen» ist ein philosophischer Essay, in einem verschwurbelten Monolog verankert: Das würde als reiner Text ein Genuss sein, aber einer, durch den man sich schwerlich eine Stunde durchlesen würde. Durch das Autofahren verliert man jedoch den Faden nicht und hört zu. Und noch mehr: Man begreift, dass dieses scheinbar willkürliche Fahren zur Abhandlung «Mit Verlusten umgehen» dazugehört, dass das Auto ein Abbild des Verlusts wird, des Realitätverlusts des Spielers einerseits und des Realitätverlusts des Autoliebhabers (der um ein kaputtes Auto ebenso trauert wie um ein Familienmitglied) andererseits, dieses Abbild wird aber zugleich ad absurdum geführt dadurch, dass dieser Verlust mit dem Realitätsverlust begleitet wird. «Umgehen» ist eigentlich falsch, es müsste heissen «Mit Verlusten rumfahren»: Rumfahren, um einen Verlust zu kompensieren, und dabei sich verlieren im toten, rasenden Spiel.
Würden die Professoren an der Uni ein Rennspiel spielen, während sie erzählten, oder würde man an Lesungen den Literaten beim Tetris zuschauen können — sie hätten eine Aufmerksamkeit, die jedes andere Format nicht hervorbringt. Let´s Plays sind die didaktischen Kaminfeuer.

Dieser Beitrag wurde von Cedric Weidmann geschrieben und am 8. Februar 2016 um 00:09 veröffentlicht. Er ist unter Diskussion, Theorie abgelegt. Lesezeichen hinzufügen für Permanentlink. Folge allen Kommentaren hier mit dem RSS-Feed für diesen Beitrag.

3 Gedanken zu „Mit Verlusten umgehen. Zur Let’s Play-Debatte

  1. Hat dies auf Wrag! rebloggt und kommentierte:

    Mein Beitrag zur Debatte um das erfolgreiche Format der Let’s Plays auf Freies Feld.

    https://www.youtube.com/watch?v=mRpHnplscQk

  2. Pingback: Über Schauspieler | Freies Feld

  3. Pingback: Lesenswert: Fox in Space, 20 Jahre Pokémon, Let’s Play | SPIELKRITIK.wordpress.com

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