Von JÁNOS MOSER.
Walter Benjamins (1892 – 1940) Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) ist aus den Regalen von Philosophie-, Kunst- und Germanistikstudenten nicht mehr wegzudenken. Der mit mässigem Erfolg während Benjamins Pariser Exil erschienene Text vermischt ästhetische, technische und gesellschaftliche Überlegungen zu einem etwas behäbig zu lesenden Aufsatz, der jedoch durch scharfe Analysen und schonungslose Darlegungen besticht. Der Inhalt: die Kunst im Zeitalter der Fotografie und des Films – eben der technischen Reproduzierbarkeit – muss unter einem neuen Blickwinkel verstanden werden. Rezipient ist die Masse, und die Masse verändert das Kunstwerk (und vice versa). An die Stelle einer magischen und später religiösen Funktion der Kunst für wenige ist der Schönheitskult der Museen und schliesslich die passive, ablenkende Rezeption des Films für die Menge getreten. War für einen Kunstsammler zumindest noch das auratische „Original“ wichtig, ist dieses aus dem Kino verbannt. Der Zuschauer taucht hier nicht mehr in Bilder ein, sondern wird von ihnen bombardiert. Filmschauspieler spielen keine Rolle mehr, sondern stellen dar, ihre Leistung ist nicht mehr das Erschaffen einer Figur, sondern eine verstückelte Theatralik von Einzelszene zu Einzelszene. Zwischen Publikum und Darsteller ist die Kamera getreten, der Apparat als trennendes Element, das den Realismus auf eine neue Ebene bringt. Mag man von Benjamins Thesen halten was man will, verständlich werden sie erst im historischen Kontext der damaligen Wochenschau, der deutschen und russischen Propaganda. Filmische Ästhetisierung von Massenaufmärschen, der russische Arbeiter als „Held“ in UdSSR-Produktionen. Ob nun Kunst politisiert wurde oder Politik inszeniert, die „neue“ Kunst, allen voran Fotografie und Film, erschien als Instrument für die Massen. Wichtigster Aspekt war deshalb die Reproduktionsfunktion. So tiefgehend diese Analysen sind, sie interessieren uns hier zunächst nur am Rande. Denn Benjamin hat in einer Ergänzung zum eigentlichen Text auch etwas über das Spiel geschrieben.
„Die Kunst der Urzeit hält, im Dienste der Magie, gewisse Notierungen fest, die der Praxis dienen. Und zwar wahrscheinlich als Ausübung magischer Prozeduren […], wie auch als Anweisung zu solchen […], wie auch endlich als Gegenstände einer magischen Kontemplation […]. Gegenstände solcher Notierungen boten der Mensch und seine Umwelt dar, und abgebildet wurden sie nach den Erfordernissen einer Gesellschaft, deren Technik nur erst verschmolzen mit dem Ritual existiert. […]. Für sie [die dialektische Betrachtung] kommt es auf den tendenziellen Unterschied zwischen jener Technik und der unseren an, der darin besteht, dass die erste Technik den Menschen so sehr, dass die zweite ihn so wenig wie möglich einsetzt. […]. Der Ursprung der zweiten Technik ist da zu suchen, wo der Mensch zum ersten Mal und mit unbewusster List daran ging, Abstand von der Natur zu nehmen. Er liegt mit anderen Worten im Spiel.“ (Reclam 2011, S. 68)
Das ist es also: Das Spiel als Abstandnahme von der Natur, als „Ursprung“ einer Technik, die versucht, den Menschen nicht mehr einzubinden, sondern aussen vor zu lassen. Wenn man auch diesem behelfsmässigen Rückgriff auf die „Urzeit“, d.h. unsere netten Steinzeitmenschen zu Recht skeptisch gegenüberstehen darf, so verquickt hier Benjamin doch auf geschickte Weise Kunst und Technik zu einer überraschenden Definition des Spiels. Das Spiel ist der Patron dieser „zweiten“, also unserer Technik, welche überraschenderweise nicht mehr so sehr die Beherrschung der Natur zum Zweck hat, sondern eine Art „Zusammenspiel zwischen Natur und Menschheit“. Schnitzte man also vor viertausend Jahren noch Ahnenfiguren, welche man rituell einbettete, um einen Donnergott zu besänftigen, helfen uns die neusten unbemannten Pizzadrohnen, einen spielerischen Umgang mit der Natur zu pflegen. Auf diese Entwicklung reagiert die Kunst. Benjamin: „Die gesellschaftlich entscheidende Funktion der heutigen Kunst ist Einübung in dieses Zusammenspiel.“ Mithilfe des Films, führt er aus, üben wir diejenigen Apperzeptionen und Reaktionen, die der Umgang mit der Apparatur (i.e. Kamera) , deren Rolle in unserem Leben täglich zunimmt. In einer Ergänzung zu einem weiteren Kapitel wird die Sache noch um „Die Polarität von Schein und Spiel“ erweitert. Der „schöne Schein“, wie er noch die antike Kunstanschauung oder auch die Goethes prägte („Weder die Hülle noch der verhüllte Gegenstand ist das Schöne, sondern dies ist der Gegenstand in seiner Hülle.“) ist mit dem Begriff des „Spiels“ der heutigen Kunst verschränkt. Warum? Der Ursprung liegt in der Mimesis. Benjamin: „Der Nachahmende macht seine Sache scheinbar. Man kann auch sagen: er spielt die Sache. […] In der Mimesis schlummern, eng ineinandergefaltet wie Keimblätter, beide Seiten der Kunst: Schein und Spiel.“ Das heisst nichts anders, als im Kunstbegriff selbst, versteht man ihn wie die Griechen als Nachahmung der Natur, auch immer bereits das Spiel mit der Natur angelegt war. Obwohl Benjamin den „Schein“ mit dem Kunst- und Technikbegriff der Urmenschen verknüpft und das „Spiel“ mit dem unseren, existierten also von Anfang an beide Tendenzen nebeneinander. Einzig die Grenzen haben sich verschoben. Heute ist der „Schein“, die Aura einer religiös motivierten Kunst weitgehend verkümmert, während ein ungeheurer Gewinn an „Spiel-Raum“ stattfand. Der weiteste Spiel-Raum hatte sich nach Benjamin damals in der Filmkunst eröffnet.
Die Aura
Der Begriff „Spiel“ ist in Benjamins Aufsatz also nicht zufällig hingeworfen, sondern – obwohl eher eine Fussnote – in die Grundthesen des Textes eingebettet. Von hier aus ist es nicht mehr weit zu den Videospielen – aber zuerst wollen wir noch ein wenig bei Benjamin verweilen. Der wohl wichtigste Begriff des Aufsatzes ist die erwähnte „Aura“, welche die „alte“ Kunst auszeichnet. Sie beschreibt Benjamin als die „Einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.“ Was verwirrend klingt, vergegenwärtigt man sich am besten durch einen Vergleich. So könnte man sich etwa vorstellen, dass der Zugang zur Kunst in früheren Zeiten durchaus beschränkt war. Sie hatte noch keinen Ausstellungscharakter, es gab keine Museen, in denen man Bilder und Statuen bewundern konnte. Stattdessen mochte ein Madonnenbild in der Kirche nur einer gewissen Gruppe von Menschen (z.B. Priester) zugänglich gewesen sein und war eng mit religiösen Handlungen verknüpft. Das Madonnenbild erhielt den Anschein der Unnahbarkeit, wie etwa ein chinesischer Kaiser, den die Untertanen nicht sehen durften. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit ist nun eine solche Unnahbarkeit – vielleicht sogar Erhabenheit – von Kunst nur noch schwer denkbar. Egal welches Bild auch im Louvre hängt, man kann es sich auf das Handy laden und jederzeit wieder abrufen. Dieses Verständnis von „Aura“, eines Art Heiligenscheines des Kunstwerks, welches seine Wirkung nur an einem speziellen Ort, in einem speziellen Licht entfaltet, ist nicht nur deshalb interessant, weil Benjamin damit eine Funktion der Kunst überhaupt erklärt, sondern weil gerade diese religiös konnotierte Genese im selben Zeitraum radikal durchbrochen wird.
Das Götzenbuch
Nur zwei Jahre später nach Benjamins Aufsatz erschien ein schmaler Erzählband von Bruno Schulz (1892 – 1942): „Sanatorium Pod Klepsydrą“ („Das Sanatorium zur Sanduhr“). Wie auch Benjamin war Schulz als Jude der Verfolgung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt. Während Benjamin allerdings bis nach Paris und weiter reiste, bleib Schulz beständig im Städtchen Drohobycz verwurzelt, wo er seinen Lebensunterhalt als Zeichenlehrer bestritt. „Das Sanatorium zur Sanduhr“ ist das letzte Buch von Schulz. Besonders interessiert uns hier die Erzählung „Das Buch“, englisch „The Book“. Glücklicherweise hat dieses Buch nichts mit der grässlichen Hohlbein-Geschichte mit demselben Titel zu tun, gemeint ist aber auch hier das Buch, das eine, einzige. „I am simply calling it The Book without any epithets or qualifications, and in this sobriety there is a shade of helplessness, a silent capitulation before the vastness of the transcendental, for no word, no allusion, can adequately suggest the shiver of fear, the presentiment of a thing without name that exceeds all our capacity of wonder.“ Vom kindlichen Erzähler stets in einer Schublade weggeschlossen, erhält es die sakrale Aura eines Folianten. Was zunächst nach einer Bibel klingt, stellt sich als Werbekatalog heraus. Anpreisungen für Haarwuchsmittel, Allheiltränke, Instrumente, sogar Vögel sind zu bestaunen. Ein Bilderkabinett des Täglichen und nicht so Täglichen, ein Durcheinander von Farben und Formen. Auf der letzten Seite des „Buches“ begegnet einem Schulz‘ Obsession: „A certain Mme Magda Wang, tethered by the train of her gown, declared above a modest décolletage that she frowned on manly determination and principles and that she specialized in breaking the strongest characters.” Gemeint sind beherrschende Frauen, femmes fatales – oder eben Dominas. „Here, with a slight kick of her small foot, she rearranged the train of her gown.“ Die selbstbewusste Frau erwacht zum Leben; wie eine Filmschauspielerin. „Apparat“ ist hier keine Kamera, sondern die bis ins kleinste Detail gehende Imagination des Ich-Erzählers.
In Schulz‘ erstem grossen grafischen Werk, einer Zusammenstellung von zwanzig Blättern unter dem Titel „The Idaltrous Booke“ oder „Das Götzenbuch“, welche dürre Männer unter den Stiefeln von halbnackten Frauen zeigen, wird Schulz‘ Besessenheit nochmals deutlicher. Sein Werk deshalb in die Ecke Sacher-Masoch zu stellen, hat vielleicht seine Berechtigung, würde jedoch zu kurz greifen. Viel interessanter erscheint die religiöse Komponente des Werks. Der Titel „Das Götzenbuch“ weist auf eine allzu oft übersehene Polarität hin. Das Buch und die Schrift, religiös gedeutet auf die Bibel und den Gottesdienst umzumünzen, wird im selben Wort mit dem Götzendienst, der Gotteslästerung verbunden. („Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen.“). Das „Götzenbuch“ ist also eine Art Zwitter. In der Tat erhalten die zusammengekrümmten Männer in manchen Bildern in ihren langen Gewändern gar den Anschein von Geistlichen, die sich vor einer „falschen“ Gottheit (der Frau) verbeugen und ihr Geschenke machen. Mehr noch, im letzten Bild der Reihe scheint ein Mann (mit den Gesichtszügen von Schulz) der Frau ein Buch zu präsentieren – das eine Buch. Der sakrale, eben auratische (Bibel)Text wird hier im Bild selbst zur Opfergabe, wie auch das „Götzenbuch“ wiederum eigentlich als Bilder-Buch fungiert und damit den göttlichen Schein durchbricht.
Maschinerie
Den Schwenk zu Walter Benjamin zu machen, fällt nun leicht. In Benjamins Theorie wie in Bruno Schulz‘ Geschichte bzw. Götzenbuch wird die Zurückdrängung einer religiösen Kunst deutlich, vielleicht sogar der Religion selbst. In „The Book“ ist es ein Buch bewegter Bilder, das zur Hostie geworden ist. Und die kläglich zu ihrer Herrin emporschauenden Männer in Schulz‘ grafischem Werk deuten symbolisch an, was Benjamin mit jener „zweiten“ Technik meinte, die an sich auf das Verschwinden des Menschen abzielt. Seien das nun Drohnen oder automatische Abläufe – der Mensch scheint angesichts der ihn umgebenden, kafkaesken Maschinerie bedeutungslos geworden zu sein. Sakraler Text, der ihm einen Sinn zuweisen könnte, ist einer Bilderflut gewichen, die ihn herumstösst und verwirrt. Madonnenbilder haben dämonischen Frauen Platz gemacht. Ihre Macht verlangt passive Rezeption. Zugleich liegt aber der wohl interessanteste Anknüpfungspunkt bei Benjamin und Schulz gerade im „Spiel“. So wie man das Gefälle Frau-Mann bei Schulz als eine Art erotisches Spiel bezeichnen könnte – wie denn auch die Beziehung zwischen Wanda und Severin in Venus im Pelz auf einem „Vertrag“ beruht, der die Spielregeln festsetzt – spricht Benjamin von der Ausweitung des Spiel-Raums in der neuen Kunst. Im Film, sagt er, „ist das Scheinmoment ganz und gar zugunsten des Spielmoments zurückgetreten.“ Bei Schulz‘ Werk hat ein solcher allmählicher Übergang gar nicht erst stattgefunden. Schon die ältere Bild-Kunst, der Benjamin immerhin „Ausstellungswert“ bescheinigen würde – ja die „Bibel“ selbst –, ist mit den abgebildeten Frauen zum Gegner des Magischen, Sakralen geworden – oder eben zum Abgott, dem man sich zu Füssen legt. Kritisch stellt Schulz seine Figuren (darunter auch Künstler) als Götzendiener dar, die sich ganz ihrer spielerischen Obsession hingeben, wie auch Benjamin in der Kunst selbst das Spiel und den „Schein“, die Aura zugleich sah.
Videospiele
Ein halbes Jahrhundert später hat die Technik nochmals Quantensprünge gemacht und wir sind bei der modernsten Form des Spiels, dem Videospiel angelangt. Und auch wenn dieser Sprung essaytechnisch wie eine Unmöglichkeit erscheint, so weit entfernt von den dreissiger Jahren sind wir gar nicht. Zugleich haben sich Parameter verschoben, die Benjamin wohl oder übel nicht voraussehen konnte. Denn was im Kino ein passives Berieseln war, ist auf dem heimischen Schirm aktives Knöpfedrücken. Wenn auch gut gemeint, so ganz an jene „zweite Technik“, die den Menschen so wenig wie möglich einsetzt, glauben wir hinsichtlich Playstation, Nintendo und co. doch nicht mehr. Was sich allerdings wohl bewahrheitet hat, ist die Ausweitung des Spielraums. Der „Apparat“ ist jetzt die Spielkonsole. Sinuskurven dringen als Sinfonien aus den Lautsprechern. Kunst und Technik sind im Spiel vereint. Nicht nur dirigieren wir unsere Spielfiguren über das virtuelle Parkett, wir haben uns auch selbstgerecht zu den Herren über Leben und Tod der Pixel erhoben. Was nicht heisst, dass Bruno Schulz‘ Götzen von der Bildfläche verschwunden sind – sie begegnen uns in vielfacher Gestalt wieder.