Freies Feld

Evolution der Maschinen

Von JÁNOS MOSER.

In den letzten fünf Jahren gab es kaum ein Spiel, das von unterschiedlichsten Lagern so viel Lob einheimste wie Nier: Automata (2017). Dabei kam der Hit scheinbar aus dem Nichts: Als Nachfolger eines japanischen RPGs (Nier: Replicant), das hierzulande kaum jemand kennt, wurde es in guter Hoffnung weltweit auf den Markt geworfen und bekam daraufhin selbst positiven Zuspruch von Spielern, die sonst mit Japano-Games nichts anfangen können. Vor ein paar Monaten wurde eine Nintendo Switch-Version nachgereicht, was ich zum Anlass nahm, mir den Titel, von dem ich allseits immer nur Gutes gehört hatte, endlich anzuschauen. Selbstverständlich erwartete ich nichts Geringeres als die ultimative Gaming-Revolution, und natürlich wurde mein Erleben dem nicht ganz gerecht. Dennoch glaube ich, ein paar Dinge darüber schreiben zu wollen.

Kampf in einer leeren Welt

Fangen wir bei den basics an: Nier: Automata ist ein Sci-Fi-Action-Rollenspiel, das im Jahre 11945 angesiedelt ist. Die Menschheit hat sich auf den Mond zurückgezogen, während die Erde von Maschinenwesen bevölkert wird, die von Aliens mit dem Ziel erschaffen wurden, unsere Spezies auszulöschen. Die Menschen wiederum schicken von einer Weltraumstation aus Androiden auf die Erde, um diese zurückzuerobern. So tobt ein schon seit vielen Jahrhunderten andauernder Stellvertreterkrieg zwischen Androiden und Maschinen auf einem längst zerstörten Planeten. Wir übernehmen die Kontrolle über die Androidin 2B, die zusammen mit ihrem Partner 9S auf die Erde geschickt wird, um eine «Goliath»-Kampfmaschine auszuschalten. Im Intro geht schon alles drunter und drüber und wir lernen eine interessante Eigenheit unserer Spielfigur kennen. Denn wenn 2B stirbt, wird ihr Gedächtnis ganz einfach in ein neues, aber exakt identisch aussehendes Androidenmodell eingesetzt, das daraufhin die Mission fortführt. Der Name 2B (or not to be) ist somit nicht zufällig gewählt: Hier soll nicht nur das Katana geschwungen, sondern auch über die grossen Fragen der Existenz nachgedacht werden. Zunächst aber zum Kampfsystem: 2B ist zwar eine Meisterin im schnellen Zuschlagen und Ausweichen, doch neben diversen Nahkampfwaffen steht ihr auch ein sogenannter «Pod» zur Verfügung, mit dem sich die Roboter mit Maschinengewehrsalven oder Laserschüssen aus der Ferne eindecken lassen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt folglich in der abwechselnden Nutzung beider Mittel. Nebenbei haben die Menschen des Jahres 11945 offenbar immer noch ein Faible für kurze Röcke – anyway: den Grossteil des Spiels verbringen wir damit, durch die postapokalyptische Welt zu streifen, auf Roboter einzuprügeln, Quests zu erledigen und Items einzusammeln. Das actionreiche Intro liess mich zunächst auf eine grosse Odyssee in einer spannenden Welt hoffen, doch setzte nach zwei bis drei Spielstunden Ernüchterung ein: Obwohl die aus Wüsten, Wäldern und zerfallenen Städten bestehende Umgebung so ihre faszinierenden Ecken beherbergt – ich denke da zum Beispiel an den Vergnügungspark – erschöpft sie sich relativ schnell. Da hilft es auch nicht, dass die durchaus emotionale Geschichte (dazu weiter unten) über Fetch-Quests, also Bring-und-Hol-Aufgaben, vorangetrieben wird. Im Verlauf der rund 40 Stunden, die man in der Welt von Nier: Automata verbringt, ist es unvermeidlich: Irgendwann hat man einfach alles gesehen und arbeitet nur noch stumpf die gestellten Aufgaben ab, die zu 90 Prozent darin bestehen, irgendwelche Gegenstände für jemanden einzusammeln. Dabei besucht man immer und immer wieder dieselben leeren Gebiete, in denen sich bestenfalls ein paar neue Gegner tummeln. Da bot eine vergleichbar zerstörte Welt wie diejenige von The Last Of Us viel mehr Abwechslung (ja, ich weiss, anderes Genre, aber trotzdem …).

Hacking im Cyberspace

Nier: Automata wurde indes von Platinum Games entwickelt, die unter anderem verrückte Spiele wie Bayonetta gemacht haben. Da wäre es doch verwunderlich, steckten nicht noch ein paar mehr Ideen dahinter? Tatsächlich haben wir es hier nicht nur mit einem Rollenspiel zu tun, sondern auch wieder mit Ausflügen in andere Genres. So verbringen wir gewisse Abschnitte (z.B. gleich den ersten) im Sitz einer Transformers-artigen Flugmaschine, mit der wir in klassischer Shoot’em’up-Manier Drohnen abschiessen. Andere Abschnitte sind als 2D-Levels inklusive Plattform-Gehüpfe aufgebaut oder stellen Kaiju-Kämpfe mit riesigen Maschinenmonstern dar. Ausserdem wird man immerzu in eine Art Cyberspace-Welt gezogen, wenn man gegnerische Maschinen «hackt», was sich so spielt wie ein simplifizierter Weltraum-Shooter zu Atari-Zeiten, in dem man Kugeln, Quader oder Zylinder mit Schüssen beharkt. Es gibt also einiges, das mich für die leere Rollenspiel-Welt entschädigte und doch dazu brachte, die mehreren Story-Durchläufe, die Nier: Automata braucht, bis sich die ganze Geschichte entfaltet, durchzuspielen. Zudem bietet das Game, obwohl man an vorgefertigte Charaktere gebunden ist, gewisse Anpassungsmöglichkeiten: Da wir Androiden sind, können wir uns sogenannte Plugin-Chips, die Boni auf gewisse Statuswerte oder weitere Fähigkeiten freischalten, individuell zusammenstellen.

Moralische Grautöne

Und damit zur Geschichte von Nier: Automata. Die war nämlich der Hauptgrund, weshalb das Spiel so einen Aufruhr verursachte. Worum geht es eigentlich? Es dürfte schwierig werden, darüber zu schreiben, ohne zu viel zu verraten. Nun, ein Versuch ist es wert. – Wie erwähnt ist die Ausgangslage ein Stellvertreterkrieg zwischen von Menschen geschaffenen Androiden und Maschinenwesen, die von Aliens auf die Erde geschickt wurden. Der Clou liegt nun in der Frage, inwiefern sich die beiden Lebensformen unterscheiden. Denn während die vermeintlich seelenlosen Maschinen durchaus zu so etwas wie Gefühlen fähig scheinen, sind es gerade die nach menschlichem Vorbild geschaffenen Androiden, die augenscheinlich nur nach Protokoll handeln. Ja, viele der Roboter, die man auf der Oberwelt trifft, machen nicht einmal Anstalten, einen anzugreifen, sondern ziehen ein friedfertiges Leben vor. So beginnt man als Spieler bald den Grund dieses Krieges zu hinterfragen. 2B und 9S (und eine dritte spielbare Figur) machen im Verlauf der Handlung eine emotionale Entwicklung durch, die sie von einfachen Marionetten zu komplexeren Charakteren heranwachsen lässt. Selbst vermeintlich unwichtige Nebencharaktere wie Pascal, der Anführer eines friedfertigen Maschinendorfs, sorgen für tragische und schöne Momente. Insgesamt erinnert das Spiel so ein wenig an Shadow of the Colossus, das ebenfalls moralische Grautöne thematisierte. Hinsichtlich literarischer Vorbilder habe ich mich zuweilen auch an das Science Fiction-Buch «Der ewige Krieg» von Joe Haldeman erinnert gefühlt, in dem die Menschen einen sinnlosen Kampf gegen die feindlichen «Taurier» führen. Manche Szenen ähneln zudem Sachen aus Stanislaw Lems SF-Klassiker «Der Unbesiegbare». Wenn viele kleine Maschinenwesen sich plötzlich zu einer riesigen Gebärmutter vereinen, aus der eine neue Maschine «schlüpft», so sieht das ziemlich grotesk aus und hat was. Andererseits sind die verhandelten Themen Mensch vs. Maschine bzw. Maschinen-Evolution nicht ganz neu und wurden schon zigmal in der SF behandelt, angefangen z.B. in Karel Čapeks «R.U.R.», und dieses Buch ist mittlerweile fast hundert Jahre alt. Nun ist davon auszugehen, dass die meisten Gamer und Spieletester keine fleissigen SF-Leser sind oder sich zumindest mit dem thematischen Horizont eines «A.I.» von Steven Spielberg schon zufriedengeben. Ich für meinen Teil hätte mir gewünscht, dass da auch mal etwas mehr kommt als die Auseinandersetzung zwischen Schöpfer und Geschöpfen. Es wäre doch viel spannender gewesen, würden die Roboter und Androiden sich völlig anders verhalten als Menschen. Doch immerhin muss man Nier: Automata zugutehalten, dass es seine Geschichte mitreissend erzählt.

Zukunftssprache

Wobei: Vergesst die Kritik, denn es gibt etwas am Spiel, das die angesprochenen Punkte locker wieder wettmacht – und zwar der Soundtrack. Ob Wald, Wüste oder Maschinendorf, jede Umgebung hat ihr eigenes Thema, das nicht nur super klingt (mein Liebling ist der Track in der Wüste), sondern auch clever eingesetzt wird. Je mehr man sich dem Zentrum des jeweiligen Bioms nähert bzw. je intensiver man in seine Abläufe verwickelt wird, desto mehr verdichtet sich das jeweilige musikalische Thema, es kommen Gesangsstimme, Streicher und sonst auch alles, was orchestral zu bieten ist, hinzu. Die Lyrics bestehen aus einer sogenannten «chaos language», das Versatzstücke aus dem Englischen, Französischen oder anderen Sprachen enthält, zusammen mit frei erfundenen Wörtern. Auf diese Weise wurde angeblich versucht, den Eindruck einer «Zukunftssprache» entstehen zu lassen – ob die in tausend Jahren wirklich so klänge, weiss ich nicht, aber bei der guten Musik spielt das auch keine wirkliche Rolle. Was die Grafik angeht, ist ein Urteil schwierig, da ich nicht weiss, ob die durchaus sichtbaren Mängel – z.B. matschige Texturen – von der Switch-Version herrühren oder ob diese schon beim Original vorhanden waren.

Himmlische Automaten

Zum Schluss werfen wir nochmals einen Blick in die Vergangenheit. Bei «Automata» kommt mir neben allem anderen auch noch E.T.A. Hoffmanns «Sandmann»-Erzählung von 1816 in den Sinn, in der die Automatenfrau Olimpia, also «die Himmlische», den Studenten Nathanael ins Liebeschaos stürzt. Als Persiflage einer Dame aus gehobener Gesellschaft spielt sie Klavier und schmettert eine Arie, allerdings so maschinell-präzise, dass jegliches Gefühl abhandenkommt. Trotzdem verursacht sie Chaos in gediegenen Teezirkeln und plötzlich fürchten alle, die gesamte Gesellschaft sei von künstlichen Menschen infiltriert, ohne dass man es merkt. Zweihundert Jahre später kommen die Automaten tatsächlich vom Himmel (i.e. einer Raumstation im Orbit), und der Mensch ist scheinbar aus der Rechnung genommen. Interessanterweise bleibt die verhandelte Frage aber dieselbe: Was macht den Menschen aus? Somit ist Nier: Automata nicht das posthumanistisches Zukunftsdrama, das es hätte sein können. Hier werden keine neuen (Zusammen)Lebensformen erforscht, sondern alte Probleme neu aufgerollt. Aber mehr muss vielleicht in einem Action-RPG auch gar nicht sein. (Wie auch dieses Review zugegeben nicht viel mehr war als vages Sich-Erinnert-Fühlen ohne Kontext). Auf jeden Fall hat Nier: Automata für einmal mehr bewiesen, dass man für klassische Philo-Fragen kein Uniseminar besuchen muss, sondern dass manchmal auch einfach eine ausgeklügelte Game-Story reicht. Und wer darauf keine Lust hat: trotzdem unbedingt den Soundtrack anhören (!).

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Dieser Beitrag wurde von Yoshi geschrieben und am 25. Dezember 2022 um 16:14 veröffentlicht. Er ist unter Reviews abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , getaggt. Lesezeichen hinzufügen für Permanentlink. Folge allen Kommentaren hier mit dem RSS-Feed für diesen Beitrag.

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