Von JÁNOS MOSER.
1984 erschien Neuromancer, William Gibsons Zukunftsvision einer von Megakonzernen beherrschten Welt, in der sich Hacker im Cyberspace (3D-Videospiel-Version des Internets) unerlaubten Zugang zu sensiblen Daten verschaffen. Globalisierung (China), Biochips, Drogen, Schwarzmärkte, Strassendreck und eine gepflegte „Verachtung des Fleisches“ sind allgegenwärtig. Dieser neu geschaffene SF-Zweig, der später unter dem Namen „Cyberpunk“ bekannt werden sollte, schlug in den zukunftspessimistischen 80ern ein wie eine Bombe. Die lebensfrohen Punks der Siebziger wurden zu Lone Rangern, zu Cyborgs mit abgetragenen Lederjacken und düsterem Gesichtsausdruck, die für oder gegen ruchlose Firmen arbeiten. Vor dem Hintergrund der stetigen atomaren Bedrohung griff die Popkultur diese von Hoffnungslosigkeit und Verlorenheit geprägte Welt nur zu gern auf. Seit Gibsons Initialzündung sind deshalb unzählige Epigonen erschienen, seien es weitere Bücher, Filme oder Videospiele.
Der Renner
Als bisher populärster Ableger gilt sicherlich nach wie vor Shadowrun. Das Pen & Paper-Rollenspiel nimmt Gibsons apokalyptische Welt auf und erweitert sie durch die Einführung von Fantasy-Elementen wie Elfen, Zwerge und Trolle. Was nach einer kruden Mischung klingt, wird durch die Hintergrundgeschichte erklärt, wonach die Rückkehr der Magie und Mutation eine Rolle spielt. Wie auch immer – jedenfalls übernimmt der Spieler die Rolle von sogenannten „Runnern“, die als Sanspapiers und Söldner illegale Aufträge für die „Megakons“ (Firmen) erledigen. Die Bandbreite reicht von Datenbeschaffung über Spionage bis hin zu Auftragsmorden. Statt wie in anderen RPGs zu leveln, erwirbt man verschiedene Implantate und Gimmicks für die Spielfigur, welche sich gegenseitig beeinflussen. So züchtet jeder seinen individuellen RPG-Charakter heran, ausgehend von Archetypen wie dem „Leibwächter“ oder dem „Kampfmagier“. Aktionen werden mit einer Unzahl von komplexen Würfeln bzw. Würfen durchgeführt, der Spielleiter überblickt endlose Zahlentabellen und Statistiken. Das Ganze braucht Zeit und Einspielvermögen – die verschiedenen Editionen (insgesamt fünf) machen es nicht übersichtlicher. Hinzu kommen ein Sammelkartenspiel, Tabletop (Figürchen à la Warhammer oder Mage Knight), Onlinegames und – SNES- bzw. Genesis-Umsetzungen, auf die sich einen Blick zu werfen lohnt.
Super Nintendo
Das SNES-Game Shadowrun, bereits ein Produkt der Neunziger, orientiert sich mehr oder weniger lose an einer Romanvorlage, die im Pen & Paper-Universum spielt. Die erste Szene zeigt Jake, einen in einen langen Mantel gehüllten coolen Typen, der in einem Leichenschauhaus erwacht. Von Amnesie geplagt, macht er sich auf, seine Erinnerungen aufzufrischen. Offenbar fiel er einem Anschlag zum Opfer, wurde aber von einer mysterösen, fuchsähnlichen Kreatur gerettet. Ziel des Spiels ist es, die Identität des Auftragsmörders sowie Jakes Retter ausfindig zu machen. In isometrischer Perspektive steuert man Jake durch dunkle Strassen und in zwielichtige Bars, in altbekannter Film Noir-Manier. Die relativ unschöne Grafik und die allzu kleinen Pixelcharaktere entschädigt das Spiel durch eine interessante Mischung aus RPG- und Point & Klick-Elementen. Dialoge klickt man nicht einfach weg, sondern erhält die Möglichkeit, fett gedruckte Worte per „Nachfragen“ in eine Liste von Stichworten aufzunehmen. Diese Stichworte wiederum wendet man bei anderen NPCs an, um mehr Informationen aus ihnen herauszuholen. Allzu oft endet das Ganze leider in einer fruchtlosen Klick-Orgie. Dasselbe gilt auch für die Aufnahme von zerstreuten Gegenständen, welche man nicht einfach durchs Drüberlaufen erhält, sondern per Klick. Die Kämpfe sind relativ statisch; tauchen Gegner auf, bleibt Jake stehen, während ein Fadenkreuz auf dem Bildschirm erscheint. Das fixiert man bequem über dem Kopf der Gegner und – nun ja. Später gibt es immerhin Zaubersprüche auf die Horden loszulassen. Wie beim analogen Spiel gibt es keine Levelups, sondern sogenanntes „Karma“, das man in die verschiedenen Attribute investiert. Die Abenteuer im Cyberspace bestreitet man in einer Top-Down-Perspektive. Nett: mit genügend Mitteln kann man andere Shadowrunner anwerben, die einem mit Tat- und Feuerkraft zur Seite stehen. Ansonsten ist das Game im von Fantasy überschwemmten damaligen RPG-Markt auf jeden Fall eine auffällige Ausnahme gewesen. Löblicherweise gab es auch eine komplette deutsche Übersetzung – und tolle Gangsterfilm-Musik.
Zur Erinnerung: Genesis, so hiess die US-Version der in Europa Mega Drive genannten Sega-Konsole, die Sonics Urheimat war. Shadowrun auf der SNES-Konkurrenz? Marginale Unterschiede, könnte man meinen. Weit gefehlt: Nicht nur erschien das Game ein ganzes Jahr später, nämlich 1994, es handelte sich auch um ein komplett anderes Spiel. Anders als das Super Nintendo-Game orientierte sich das Genesis-Shadowrun stärker am Pen & Paper-Prinzip. Statt feste Storyleitplanken bekommt man eine relativ offene Spielwelt zu sehen, die einem zu Beginn die Wahl zwischen rund drei Charakterklassen lässt. Der „Samurai“ ist der Kampfspezialist, der „Decker“ der Mann für den Cyberspace und der „Schamane“ der Magier. Diese Archetypen definieren jedoch nur die Anfangswerte; auch hier lässt sich mit „Karma“ an manchem herumbasteln. Die verschiedenen Stadtteile bereist man mit dem Taxi, die Kämpfe sind dynamischer. Statt Isometrie ist Vogelperspektive angesagt. Trotzdem ist die Steuerung recht gewöhnungsbedürftig (Der Bildausschnitt zuckt in diverse Richtungen, sobald man sich herumdreht). Die Ausflüge im Cyberspace sind diesmal Pseudo-3D-Abschnitte, wo man im FF-ATB-Stil gegen technische Komponenten kämpft. Abwechselnd erledigt man Aufträge für die „Mr. Johnsons“ (Firmenangehörige) und arbeitet sich so durch die Stadt. Im späteren Spielverlauf kann man sich ausserdem das Vertrauen von Gangs und Unterweltbossen einholen und sich entweder für die Mafia oder die Yakuza entscheiden.
Nicht unerwähnt bleiben sollte die Mega-CD-Version, die 1996 nur in Japan erschien und mit einem rundenbasierten Kampfsystem an Final Fantasy und co. erinnert. Blieb das Spiel eher eine Obskurität, dürfte der Animé Ghost in the Shell (1995) auch uns im Westen etwas sagen, der zwar per se nichts mit Shadowrun zu tun hat, aber in einer stark von Gibson inspirierten Welt spielt. Nicht umsonst soll Gibson gerade von Tokyo begeistert gewesen sein und die Stadt als Realität gewordenen Cyberpunk gepriesen haben. 2007 gab es einen Shooter für die XBox 360 und den PC, aber viel Gutes hört man nicht darüber. 2013 folgte die bislang letzte Inkarnation der Franchise namens Shadowrun Returns für u.a. Android.
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