Von CÉDRIC WEIDMANN.
Es ist ein Phänomen der digitalen Effekte, sowohl der Videospiele als auch der Special Effects von Hollywoodfilmen, dass man seit zwanzig Jahren auf qualitativ hochwertige Umsetzungen der Realität hofft. „Wie realistisch ist die Grafik?“ war ein Satz, den ich in meiner Kindheit oft gehört und sicher so oft gesagt habe. Man wartete auf die neuen Konsolen, auf die neuen Engines wie auf einen Messiahs. Aber es hörte nicht bei der Grafik auf. Es ging darum, ob man in einen Toten noch Löcher schiessen konnte, ob das Blut auch wirklich weit genug spritzte, ob all das eben realistisch genug war.
Die Fiktion der realistischen Grafik
Und das ist ein Phänomen, sage ich, weil das Realistische schon längst kein Kriterium mehr ist für Kunst. In der Malerei etwa ist der Anspruch, realistisch zu malen, spätestens seit der Moderne verschwunden. Eine der Erklärungen lautet, dass es das neue Medium war, das die Malerei konkurrenzierte: Die Fotografie. Sie habe den Realismus in der Malerei überflüssig gemacht.
Warum gilt das nicht für Games? Warum wollen sie das Realistische? Eine Antwort wäre, dass sie keine Kunst sind. Eine andere, dass Videospiele bereits die ideale Form der Kunst sind, ohne Konkurrenz, sozusagen Malerei in einem Zustand, bevor es Fotografie gab. Aber dafür erscheint uns das Videospiel selbst noch als zu künstlich.
Versuch einmal, den Troll aus dem ersten Harry Potter-Film, heute, 13 Jahre nach seiner Verfilmung, für realistisch zu halten. Es wird dir nicht gelingen, du wirst nur lachen. Die technische Umsetzung der digital erzeugten Bilder nahm Riesenschritte und krempelte die Möglichkeiten innert weniger Monate immer wieder um. Damit aber auch unsere Ansprüche an die realistische Grafik. Nie zuvor wurde ein Medium so rasch technisch verbessert wie das digitale.
Ist die Realität überhaupt genug?
Deshalb war der Anspruch realistisch zu sein auch immer ein Anspruch an die Technik. Es ist möglich, dass die grafische Realitätstreue als einziges Ziehpferd des Fortschritts heute nicht mehr taugt. Technik bedeutet nicht mehr nur Engine. Deshalb Oculus Rift. Deshalb eine Brille, die die Realität auch in der mechanischen Bewegung des Kopfwendens fortsetzt. „Wer sagt mir“, fragt János, „dass ich in einer Welt leben will, in der Realität und Virtualität miteinander verschmelzen?“ Eine gewagte Frage für jemanden wie mich, der zwanzig Jahre auf noch realistischere Grafiken gewartet hat, ohne daran zu zweifeln (und mal ehrlich, sie sind immer noch nicht realistisch).
Keine Zombies
Vielleicht geht es aber gar nicht darum, dass wir die Virtualität realistischer machen. Vielleicht wollen wir gar nicht, dass die Spiele uns die Realität zeigen. Vielleicht haben wir uns das all die Jahre eingeredet. Vielleicht machen wir vielmehr die Realität immer virtueller. Zombies sitzen mit der Oculus Rift-Brille auf dem Sofa und spielen: Zombiegames? Fantasy-RPGs? Nein, vermutlich LKW- oder Landwirtschaftssimulatoren. Oder sie handeln auf GTA an der Börse. Vielleicht ist Vieles unserer Fehleinschätzung geschuldet. (Vielleicht haben Spiele den Drang, nicht gespielt zu werden.) Vielleicht versuchen uns die Spiele nur, das Leben schmackhafter zu machen: Wie ein Urlaub dazu dienen kann, die Heimat wieder zu schätzen.
Oculus Rift macht endlich alles realistischer, aber nicht spielfreudiger. Vielleicht ist es richtig, dass Facebook Oculus Rift gekauft hat. Es muss dazu dienen, uns von der „ständig der Realität nacheifernden Virtualität“ befreien. Denn sie ist eine Fiktion. Spiele werden kein bisschen realistischer. Die Brille wird uns endlich helfen, die Realität nicht mehr so ernst zu sehen. Sie wird aus unserem Leben ein Spiel machen, voller (Sofa-)Zombies und voller Science Fiction. Und wenn wir sie ablegen und in den anbrechenden Morgen blinzeln, ziehen wir Google Glass an.