Freies Feld

Alice: Madness Returns

Von JÁNOS MOSER.

Lewis Carroll wäre stolz: Seine Alice hat es in die Videospielwelt geschafft. In Alice: Madness Returns bekommt die Titelheldin schon ihre zweite prominente Rolle in einem Game, das erste hiess American McGee’s Alice. Madness Returns? Ja: Für einmal mehr kehrt der Wahnsinn ein – in Form eines fliegenden, brennenden Zuges, der das Wunderland zu zerstören droht. Eure Aufgabe ist es, die Vernichtung aufzuhalten und die Fantasiewelt vor dem Verfall zu retten. Dabei stellen sich euch Monster, Rätsel und vor allem viele, viele Plattformen in den Weg.

Am Rand der Gesellschaft

Wer nun hofft, auf den Mad Hatter, den Osterhasen und Humpty Dumpty zu treffen, wird erst einmal enttäuscht. Das Spiel beginnt zwar mit einer vielversprechenden Videosequenz im Scherenschnitt-Stil, in der ein paar blutige Köpfe zu sehen sind, versetzt einen aber kurz darauf ins Sprechzimmer eines Psychologen. Spätestens, als Alice aus dem Heim auf die Strasse spaziert, wird klar: Carrolls Buchvorlage wurde psychologisiert und seiner kindgerechten Landhausatmosphäre gänzlich enthoben. Wir befinden uns im viktorianischen London des 19. Jahrhunderts und am Rand der Gesellschaft. Betrunkene torkeln durch die Gassen, Geschrei hallt durch die Häuser, Prostitution und Prügeleien sind an der Tagesordnung. Alice steht unter ständiger psychologischer Betreuung, seit sie ein Feuer in ihrem Elternhaus gelegt hat, in dem Eltern und Schwester umgekommen sind. Ihre einzigen Freunde sind eine alte, verrückte Frau und eine dicke Dirne. So ernüchternd dieses Setting erst einmal wirkt, es schlägt ein: Zum ersten Mal scheint ein Spiel über das Buch hinauszuwachsen und will statt dem Kindchenschema der harten Realität des industriellen Zeitalters entsprechen. Leider vermisst man zwangsläufig das genialische Sprachspiel Carrolls, die Dialoge sind eine krude Mischung aus Puppenhaus-Aphorismen und Allgemeinplätzen (Beispiel: „Ein Elefant vergisst niemals wo er seinen Rüssel gelassen hat.“) Alice selbst steht die Verrücktheit ins Gesicht geschrieben; ein bleiches, ovales Gesicht, grüne Katzenaugen und ein lebloser, düsterer Ausdruck, der einem angenehme Schauer über den Rücken jagt. Von einem letzten Rest Unschuld geleitet, streift man durch die Gossen, bis man ins Wunderland übertritt (was indes nicht an die Klasse der Silent Hill-Übergänge in die Parallelwelt heranreicht). Von da an wird’s blutig: Mit einem magischen Messer ausgestattet erwehrt man sich der dunklen Feinde, die das Wunderland bedrohen, hackt sie entzwei oder köpft sie. Im Verlauf des Spiels kommen eine Pfeffermühle, ein Steckenpferd (inklusive brennender Dämonenaugen – genial) und eine Teekanne als Nah- und Fernkampfwaffen hinzu. Alices Wege führen durch Zauberwälder, östliche Gebirge und sogar die arktische See (über und unter Wasser). Was die Umgebungen angeht, hat man alle Register gezogen und lehrt den Spieler entzücktes Staunen. Endlich kommen auch der Hutmacher, der Hase und co. zu ihren Auftritten. Wie schon von der Buchvorlage her gewohnt, gibt sich alles schön abgedreht und skurril; wobei man sich fragt, ob der beschworene Wahnsinn vielleicht nicht schon im Buch präsent war und das Spiel nicht unnötig noch einen draufgesetzt hat. Trotzdem macht es Spass, Alice als kalte Furie zu begleiten; denn so hat man sie noch nicht erlebt. Alles ist mit einem Schuss Düsternis durchsetzt: dem Hutmacher fehlen die Glieder, der Hase will einem ans Leder und die Königin wohnt in schleimigen Herzkammern. Passend zu den Umgebungen erwirbt man nach und nach verschiedene Kostüme, die im Hauptmenü beliebig ausgewechselt werden können. Die Totenkopfschleife darf natürlich nicht fehlen. Insgesamt erinnert die Spielfigur an eine böse Zwillingsschwester von Elizabeth aus Bioshock Infinite (und ist deshalb vielleicht etwas interessanter).

AliceBild

Hüpferei

Immer mal wieder wird man aus dem bedrohten Wunderland herausgerissen und findet sich in den Gassen Londons wieder. Diese Abschnitte bestehen wie zu Beginn des Spiels nur durch das Abmarschieren eines vorgegebenen Weges. So stimmungsvoll sie sind, sie haben einen Haken: Nur mühsam lässt sich die Story so mitverfolgen. Alice erwacht entweder in einem leeren Haus, in einer Zelle oder einer schmutzigen Strasse aus ihren Wunderlandträumen und wird mit vielerlei Gesichtern konfrontiert. Bis man sich einigermassen zurechtfindet und sich erinnert hat, wo der letzte Londonabschnitt aufhörte, steht schon die nächste Wunderreise an. So kommen die Teile in der unmittelbaren Handlungsebene nicht ganz zusammen. Und das Gameplay? Abwechselnd absolviert man Sprungpassagen, Schach- oder Schieberätsel und Kämpfe. Weder hat man dabei Massenschlachten noch Knacknüsse zu erwarten. Der Fokus ist eindeutig auf die Geschicklichkeit gelegt, und mit seinen allfälligen Rutschpartien hat Madness Returns etwas von einem frühen 3D-Jump’n’Run à la Super Mario 64. In vielen Levels zieht sich die Hüpferei und Kämpferei leider arg in die Länge und wirkt trotz ganz anständigem Leveldesign uninspiriert. Die Angelegenheit wird dröge und langweilig, dasselbe hat man schon in hunderten anderen Spielen gesehen: aktiviere den Schalter, damit diese Plattform erscheint, auf der du zu einer weiteren gelangst, auf dem der Hebel zur Entriegelung der Tür dient und so weiter und so fort. Einziger Lichtblick sind die schon erwähnten Rutschpartien und einige 2D-Abschnitte (entweder als Shooter wie R-Type oder als Rayman-Hüpfspiel). Originalgetreu kann sich Alice jeweils verkleinern und durch Schlüssellöcher quetschen, wo entweder Sammelobjekte auf sie warten oder einfache Herausforderungen, deren Bestehen zu einem Rosenblatt (Herzteil) führt. In einem Spielabschnitt wird Alice zur Riesin – der machte wohl am meisten Spass. Mit den überall in den Levels verteilten Zähnen lassen sich die Waffen upgraden, was ihnen jedoch keine neuen Attacken, sondern bloss grössere Durchschlagskraft verleiht. Zum Blocken kann Alice in den Kämpfen auf ihren Schirm zurückgreifen, und wenn es mal eng wird, versetzt sie ein Druck auf R3 in den „Zustand der Hysterie“. Ironisch: nach damaligem medizinischen Verständnis das Krankheitsbild der Frau. Absicht? Wahrscheinlich. Auf manchen Gamesites wurde die Grafik kritisiert – meiner Meinung nach geht sie ganz in Ordnung. Nur von der Musik hätte ich nach dem Lied im Hauptmenü etwas mehr erwartet.

AliceRichter

Fazit

Alice: Madness Returns spielt sich sehr altbacken und hat keinen Mut zu Neuerungen. Umso erstaunlicher, dass man nicht mehr wirklich vom Bildschirm loskommt, wenn man einmal angefangen hat. Es liegt wohl daran, was schon ein Spiel wie Medievil 2 so gut machte. Eine bestimmte viktorianische, durchgedrehte Atmosphäre, die man entweder liebt oder hasst, nur entziehen kann man sich ihr nicht (wobei jenes Spiel noch mehr an Tim Burton erinnerte). Wer den Mad Hatter bei Batman mochte, sollte jedenfalls unbedingt einmal ein Auge auf Madness Returns werfen. Mehr von der dunklen Alice sehen wir dann übrigens im bereits angekündigten Nachfolger.

Dieser Beitrag wurde von Yoshi geschrieben und am 4. April 2014 um 15:50 veröffentlicht. Er ist unter Reviews abgelegt und mit , , , , getaggt. Lesezeichen hinzufügen für Permanentlink. Folge allen Kommentaren hier mit dem RSS-Feed für diesen Beitrag.

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