Freies Feld

Die Stummen – Performativität im Spiel

Von JÁNOS MOSER.

Gross war der Aufschrei der Metroid-Fans, als sich Samus Aaran im neusten Teil der Reihe (Metroid: Other M, 2010) als verweichlichte Heulsuse entpuppte. Dabei hatten die Entwickler wirklich hart daran gearbeitet, einen der ältesten und populärsten Videospielcharaktere mit Tiefe, Hintergrundgeschichte und Substanz auszustatten. Woran hakte es am Background mit General Adam? Sie schien ihm wie ein Schosshündchen zu folgen. Nichts mehr mit Unabhängigkeit, Emazipation und Stärke. Und gerade Samus galt lange (vielleicht irrtümlich) als das Gegenbeispiel, wenn Feministinnen mit ihren gähnend langweiligen Pamphleten über bar-, im harmlosesten Fall grossbusige und obendrein hilflose Sexfantasien über die Videospielindustrie herzogen. Warum wurden die Erwartungen der Fans enttäuscht? Oder anders gefragt: Was für Ewartungen hatten die Spieler eigentlich an die Kopfgeldjägerin, und wodurch wurden diese Erwartungen verursacht? Sehen wir uns die frühen Metroid-Spiele an, fällt auf, dass Samus eine Eigenschaft mit Link, Mario oder Sonic teilte: Sie sagte das ganze Spiel über nicht mehr als ein paar Sätze. Wozu auch? Der Spieler will Aliens töten, nicht jemandem beim Reden zuhören. Nein, ihre Persönlichkeit hatte offensichtlich nicht viel damit zu tun, wie sie über die galaktische Bevölkerung, Raumschiffe oder plattgefahrene Frösche dachte. Und gerade dem liegt, wie ich meine, ein sehr interessantes Phänomen zu Grunde: Die Performativität von Videospielcharakteren.

Spiel ohne Worte

Die ersten Spiele mit etwas, das man „Sprachausgabe“ nennen könnte, gab es mit Stratovox, Crazy Climber oder Berzerk schon 1980. Trotzdem würde bis zu PS2-Zeiten das meistgenutzte Sprechmedium der Text bleiben. Nichts, was Charaktere daran hindern würde, viel über sich preiszugeben, könnte man meinen. Das Spiel war zudem schon früh häufig der kleine Bruder des Films. Was also verleitete die Entwickler dazu, die steuerbaren Charaktere oft als stumm darzustellen? Besonders auffällig mutet diese Anomalie in Rollenspielen an. Felix, der Held aus dem zweiten Golden Sun-Teil (siehe Review) sagt in Die vergessene Epoche kein einziges Wort, obwohl er seine Sprachfähigkeit im ersten Teil zu Genüge bewies. Was ist passiert? Hat er einen Frosch verschluckt? Ist ihm der Adamsapfel in den falschen Hals geraten? Nein: Er ist zum Hauptcharakter geworden. Und bleibt neben Isaac (der Hauptchara aus dem ersten Teil) übrigens der einzige Protagonist, dem man einen beliebigen Namen – im Normalfall seinen eigenen – aufs Auge drücken darf. Identifikation mit dem Spieler lautet die Lösung. Ego-Shooter wie Counter Strike gehen oft noch einen Schritt weiter. Hier ist der steuerbare Charakter komplett austauschbar und gesichtslos. Das einzige, was ihn von seinen Mitkämpfern oder Gegnern unterscheidet, ist sein „Beruf“ wie Scharfschütze usw. Alle Soldaten zusammen nach einer harten Dienstzeit in einer Bar anzutreffen, geriete zu einem Bild der Absurdität. Manche Spiele haben auch überhaupt keinen Protagonisten: Man denke an Tetris oder andere Knobelspiele. Mal von den zwei Extrembeispielen abgesehen, scheint uns jedoch trotz aller offensichtlich gewollten Gesichtslosigkeit etwas an einen Charakter wie Samus Aran zu binden. Im Gegensatz zu den Counterstrike-Soldaten ist sie eine singuläre Persönlichkeit: Niemand anderes als Samus soll sich durch die Höhlen Zebes´ kämpfen, oder Metroid wäre nicht mehr Metroid. Sie soll auf eine bestimmte Art sein. Auf welche Art? Hat sie bestimmte Merkmale? Ist sie schüchtern? Nervig? Hat sie ein Kindheitstrauma? Was einem „hippe“ Autoren wie Chuck Palahniuk in Literaturblogs immer wieder einbläuen – gib deinen Protagonisten eine Vergangenheit! – Gib Ihnen Ticks! – Gib ihnen spezielle Eigenschaften! – hat in einem Spiel wie Metroid nur eine zweitrangige Bedeutung. In erster Linie geht es doch darum, mit Samus gewisse Dinge zu tun – aufgrund der Möglichkeiten, die einem das Spiel bietet. Sie soll Raketenkanister finden, Gänge freibomben, Ridley besiegen und Verletzungen wegstecken. An ihren Charakter ist eine starke Performativität gebunden; sie ist im weitesten Sinn dadurch definiert, was sie tut.

Interpretation

Wie interpretiere ich eine Heldin, die ohne Worte auf riesige Weltraumkröten zustürmt und sie über den Haufen ballert, sofern ich den Mumm dazu habe? Bin ich sie, ist sie ich? Wer „handelt“ denn nun eigentlich? Und wenn es nur der Spieler ist, der handelt, warum ist er dann plötzlich so schockiert, wenn Samus auch mal „Schwäche“ zeigt? Die Performativität eines Videospielcharakters hat so seine Tücken. Gerade weil wir nur erfahren, was er tut, scheint besonders viel Spielraum für Interpretation gegeben. Freilich wird dieser Eingegrenzt. Man würde wahrscheinlich nicht vermuten, dass Samus in ihrer Freizeit pinke Socken strickt oder Mario – okay, bei dem vermuten wir so Einiges. Hier gehen Spiele und Literatur Hand in Hand: anhand eines gegebenen Textes, eines gegebenen Spiels, stellen wir Vermutungen an. Im Falle Samus sind die Spieler sehr nah am Text bzw. Videospiel geblieben. Sie hat Ridley im ersten, dritten und vierten Teil ohne mit der Wimper zu zucken ausgelöscht. Warum sollte sie also plötzlich in Weinkrämpfe ausbrechen? Der Spieler traut ihr die Emotionalität in Other M nicht zu. Samus Aran ist eine echte Powerfrau: stark, kaltblütig und selbstsicher. Weshalb diese Eigenschaften Weinerlichkeit ausschliessen sollen, ist natürlich wieder eine andere Streitfrage. Der Grundgedanke – oder das Vorurteil – jedoch bleibt: Jemand, der zum Frühstück Aliens verspeist, ist nicht an Cornflakes interessiert.

Beladen

Schon mal mit einem Zweimeterschwert einen Ork zerteilt? Nein? Ich auch nicht. Der Alltag eines Durchschnittsgamers ist deutlich trister. Kein Wunder, faszinieren die Kämpfe gegen übermächtige Gegner, Palisaden und ganze Armeen. Und kein Wunder, sind Videospielhelden mit bestimmten Vorstellungen beladen, nachdem sie den ersten Gnom zerstampft haben. Männer tragen fette Rüstungen und achtzig Waffen gleichzeitig, Frauen deutlich weniger, teilen aber häufig ebenso viel aus. Ihre Performativität nimmt für den Spieler eine herausragende Rolle ein, und was die Charaktere alles so performen, ist nun mal häufig blutig, übertrieben und schamlos – und wird charakterbildend auch so interpretiert. Die Welt der Videospiele glitzert und funkelt, schreit und brüllt laut. Was irgendwie grossartig ist.

Dieser Beitrag wurde von Yoshi geschrieben und am 16. November 2012 um 14:57 veröffentlicht. Er ist unter Theorie abgelegt und mit , , , , , getaggt. Lesezeichen hinzufügen für Permanentlink. Folge allen Kommentaren hier mit dem RSS-Feed für diesen Beitrag.

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