Von JÁNOS MOSER.
Die Geschichte von Videospieltexten ist oft keine rühmliche. Literaturexperten krümmen sich beim Anblick so mancher Final Fantasy-Dialoge, Buchhändler blicken mit Grausen auf den neusten Ableger einer Asassin’s Creed-„Story“ und Übersetzer ärgern sich grün und blau in Anbetracht der stotternden NPCs in Alundra. Und dass Konami in Sachen Text für unfreiwillige Lacher sorgt, muss man wohl niemandem mehr erzählen. Die vorliegende Abhandlung will auch gar nicht über den literarischen Wert von Texten in und um Videospiele debattieren. Vielmehr will sie der Frage nachgehen: Was machen Videospieltexte besonders? Gibt es überhaupt so etwas wie „Videospieltexte“? Und wenn ja, was sind die Kriterien, die sie erfüllen müssen, um als solche zu gelten? Was können wir letztlich von Videospieltexten lernen? Da das Zusammenwirken von Text und Spiel sehr viele Facetten aufweist, will ich im Folgenden nur die paar wichtigsten beleuchten und mich vorwiegend auf Text im Spiel beschränken. Vielleicht erfahren wir auch gleichzeitig mehr über die obengenannte Geschichte.
Das Grundgerüst
Text und Spiel, da kommt man nicht umhin, an die zahllosen Stunden zu denken, die man in Gothic, Dragon Age oder Mass Effect damit verbracht hat, mit den Charakteren zu interagieren, sie in Rage zu versetzen, ans Messer zu liefern oder ins Bett zu kriegen. Interaktive Dialoge mit Auswahlmöglichkeiten gehören zum guten Ton eines jeden (westlichen) Rollenspiels. Setzt man „Interaktivität“ als einleuchtendes Kriterium für Videospieltexte, stösst man schnell auf gewichtige Beispiele. Wo fing jedoch alles an? Wann begann Videospieltext interaktiv zu werden, ein Mittel zu sein, das uns tief in eine Welt eintauchen lässt? Die Wurzeln reichen bis hinein in die Siebzigerjahre. Die damals aufkommende Form des Text-Adventures, begründet von Spielen wie Colossal Cave oder Zork. Die Verbindung zwischen Text und Spiel besteht hier in ihrer reinsten Form – Spiel ist Text. Während in den später aufkommenden Grafik-Adventures die Spielwelt durch Bilder dargestellt wurde, griff man bei Text-Adventures noch auf rudimentärere Mittel zurück. Auf dem Bildschirm erscheinen Sätze wie „This is an open field west of a white house, with a boarded front door. There is a small mailbox here. A rubber mat saying ‘Welcome to Zork!’ lies by the door.” Die Navigation im virtuellen Textraum besteht aus einfachen Befehlen wie „Go north“, „Go west“, „Open mailbox“ und so weiter, die direkt ins Eingabefeld getippt werden müssen. Die gesamte Spielwelt konstituiert sich aus einem Spiel zwischen Text und Spieler, der vor Probleme gestellt wird, die es zu lösen gilt. Videospieltypisch durchaus auch auf direkte Weise („Attack Troll with sword“). Nach und nach wird man so durch die Handlung gelenkt. Was man hier vor sich hat, mag die Urform von Videospieltext sein, gemahnt jedoch vor allen Dingen an klassische „interaktive“ Bücher, in der man durch verschiedene Auswahlmöglichkeiten entweder ins Verderben oder Glück schlittert. Nichtsdestotrotz hat man es hier mit einer gesonderten Textart zu tun; während man in interaktiven Büchern die Rolle des Lesers behält, verwischen beim Text-Adventure die Grenzen zwischen Leser und Autor. Durch das Eingabefeld, die mechanische Erfahrung des Tastaturtippens, scheint man selbst zum Erzähler zu werden. Scheinbar nur, weil die Handlung der Geschichte ja von unsichtbarer (Programmierer)Hand schon vorgegeben ist. Dennoch: Innerhalb eines gegebenen Rahmens ist es dem Spieler möglich, sich frei vor und zurück zu bewegen, Handlungen zu unterlassen oder zu wiederholen. Diese äusserst interessante Form von „Spiel“ regt auch heute noch zu experimenteller Literatur an, die sich von Zork und Colossal Cave emanzipiert hat.
Werte und Texte
Mit dem Einzug besserer Grafikleistung in die Computer blieb natürlich auch das Text-Adventure nicht von einer Weiterentwicklung verschont. Zum Text kam in den Achtzigerjahren das Bild hinzu – wir kommen den heutigen Adventures näher. Das Prinzip blieb aber im Grunde das gleiche: Der Spieler hat einem vorgegebenen Rahmen verschiedene Auswahlmöglichkeiten, die klug eingesetzt zum Ziel bzw. Weiterkommen führen. Adventures gehörten inzwischen im stetig wachsenden Videospielmarkt (der trotz des „Video Game Crash“ von 1983 überlebte) nicht mehr zum einzigen Genre, das sich häufig auf Text stützte. Neu eröffnete das weite Feld der Rollenspiele (mit Ultima als prominentes Beispiel) eine Palette von Textfunktionen. Ausgehend von Pen & Paper und Dungeons & Dragons benutzten solche Spiele Statistiken für Charaktere und Umgebungen. Werte wie „Stärke“, „Zauberkraft“ usw. in simplen bis komplizierten Menüs hatten direkte Auswirkungen auf das Spielgeschehen. Kann ein solches Wertewirrwar „Text“ sein? Wenn man davon ausgeht, dass wir es nicht nur mit einer verkappten Syntax des Computerprogramms, sondern auch Semantik zu tun haben, will ich meinen: Ja. Entfernt mit dieser Problematik verwandt mag John Searles Gedankenexperiment des „chinesischen Zimmers“ sein, in dem er beweisen wollte, dass eine einfache Turing-Maschine keine Semantik habe. Dieses Problem stellt sich uns nur abgeschwächt: erstens geht es uns ja nicht mehr darum, ob das Programm selbst etwas von den Werten „Stärke“, „Magie“ usw. versteht, sondern darum, was sich für den Spieler daraus ergibt, und zweitens kommuniziert das Videospiel als Spiel logischerweise mit dem Spieler. Es ist auch nicht so, dass z.B. „Stärke“ eine aus dem Zusammenhang gerissene Bedeutung hätte. Während ein Text wie „Stärke: 7“ in einem literarischen Umfeld höchstens als dadaistisch durchgehen würde, bedeutet diese Textzeile im Spiel etwas durchaus Konkretes, z.B. die Spielfigur kann sieben Mal zuschlagen, bevor sie erschöpft ist. Wir können also davon ausgehen, dass ein Menübildschirm nicht nur das unverständliche Abbild eines programminternen Vorgangs ist, sondern als „Text“ eine Art syntaktische Semantik mit pragmatischen Auswirkungen hat. Als weiteres Kriterium für „Videospieltext“ liegt es daher nahe, diese Verknüpfung heranzuziehen. Will man ans Eingemachte gehen, gälte natürlich auch der Programmcode als unsichtbarer Text – aber für den interessieren sich wohl besser die Informatiker unter uns.
Dialoge
Nach dieser Ausschälung wieder zu den grossen Brocken: Immer wichtiger wurde im Verlauf der Rollenspielentwicklung auch das, was die NPCs, also die Nichtspielercharaktere, so zu sagen hatten. Und da man Ende der Achtziger, Anfang der Neunzigerjahre noch nicht die Power hatte, legendäres Voice Acting zu fabrizieren, musste man sich eben auf: genau, Text beschränken. Die Videospielindustrie war auf dem aufsteigenden Ast: Jetzt stand auch in der hinterletzten Wohnstube ein legendärer (ja, das Wort rockt) Super Nintendo und die Spieler hatten schon längst keine Lust mehr, erst ein Handbuch zu lesen, um zu verstehen, wie das Spiel funktioniert. Also musste mehr Text her. Charaktere, die dem Spieler Tipps geben, Charaktere, die den Spieler in die Spielwelt einführen, Charaktere, die den Spieler beschimpfen, Charaktere, die Arien singen, Charaktere, ja, die einfach Charaktere sind, alles gekrönt von noch mehr Text mit allerlei Hintergrundinformationen über Spiel und Welt. Bis zu Shakespeare war und ist es noch ein weiter Weg, aber Text im Videospiel hatte endlich auch den Anspruch, mehr zu sein als bloss Mittel zum Zweck. Die Funktionen von Videospieltext fächern sich beinahe ins Unendliche auf: Sie sind selbstreferentiell oder verweisen auf andere Spiele (Mein Liebling: „All your base are belong to us“ kann in Age of Empires 2 als Cheatcode benutzt werden – wenn das mal kein Literaturbetrieb ist!), sind völlig nutzlos (wie in Castlevania 2) oder versuchen Gedichte zu sein. Von all diesen Aspekten möchte ich nur zwei herausgreifen, die mir besonders interessant erscheinen.
Neben den NPCs dürfen die steuerbaren Charaktere nicht vergessen werden. Und was die so von sich geben, hat mir schon so manches Mal die Tomaten von den Augen genommen. Richtig, diese Teufelskerle erzählen suggestiv! Ich habe diese Textfunktion der Einfachheit wegen so genannt, noch besser verdeutlichen lässt sie sich aber mit einem Beispiel aus jüngster Zeit. Ich stehe auf dem Schlauch: Wieder einmal hat Alfred meinen geliebten Batman im Stich gelassen. Ich trample auf dem Dach einer Fabrik herum und weiss nicht, wie ich an Joker rankomme, der in der Fabrik sitzt. Es gibt scheinbar keinen Weg, hineinzukommen, bis der Flattermann den Mund öffnet und mir (in etwa) samt Untertitel nahelegt: Ich sollte es mit dem Schornstein versuchen. Bingo! Woher hat er das gewusst? Ist ja auch egal. Er ist Batman. Und er kann alles. Auch verirrte Wanderer wie mich ans Ziel bringen. Indem er – halt, was hat er eigentlich getan? Er hat zu mir, zum Spieler gesprochen. Und doch hat er „Ich“ gesagt, und mit „Ich“ meint er sich selbst, Batman. Was ist da passiert? Unglaublich, aber wahr: Die Spielfigur Batman hat in zwei Ebenen gleichzeitig gesprochen. Zum einen adressierte er die Person, die vor dem Bildschirm sitzt – von deren Existenz er, vernünftig gesehen, gar nichts wissen kann – also mich. Zum anderen führte er ein harmloses Selbstgespräch, wie es eine Theaterfigur tun würde. Und da wir schon beim Theater sind: Erinnern wir uns da nicht an Christian Dietrich Grabbes Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung, wo Grabbe selbst am Schluss des Stückes „den Punsch aussaufen“ hilft? Wo die Figuren ihn als „Verfasser“ des Stückes erkennen, Theater und „wirkliche Welt“ ineinander übergehen? Noch drastischer, scheint es, gestaltet sich ein solches Spiel mit Metaebenen in unserem Fall: Da der Spieler, im Gegensatz zum Theaterpublikum, auf diese Abart von romantischer Ironie direkt reagieren kann, ändert sich u.U. sofort der Verlauf der Geschichte – ich irre nicht mehr umher, sondern springe in den Schornstein.
Da diese Beobachtung wohl ebenso gut in den Bereich der Erzähltheorie passen würde, sollten wir wieder zu den Basics zurückkehren und uns zum Beispiel um die Dialoge in Risen 2 kümmern. Das Piratenabenteuer bietet neben einer spassigen Spielewelt, authentischen Charakteren und vielen Bugs nämlich auch Text – mehr, als tatsächlich „benutzt“ wird. Wie soll man sich das vorstellen? Ganz einfach: wie viele andere Rollenspiele bietet Risen 2 in den Dialogen einen Textkorpus, aus dem jeweils ein spezifisches Element herausgegriffen werden kann und muss. Auf eine Frage eines NPCs hin kann ich also nett, böse, gleichgültig oder sonstwie antworten – die Auswahlmöglichkeiten kann ich mir in aller Ruhe ansehen. Um das Ganze noch kniffliger zu machen, haben meine Antworten Auswirkungen auf mögliche Quests usw. und der NPC reagiert entsprechend verschieden. Was ist nun so besonders daran? Wie bereits angetönt, ist es das „Mehr“ an Text, als im Dialog schliesslich tatsächlich gesprochen wird. Die Dialoge bieten im wahrsten Sinne des Worts „Spielräume“. Bevor er überhaupt eintritt, bin ich schon über mehrere Antwortmöglichkeiten hinweggegangen und habe mich für eine bestimmte Textzeile entschieden. Und es bleibt teilweise viel „unbenutzter“ Text liegen – da ist also Text um den Text, der aber zugleich hypothetisch im gesprochenen Text zu sein scheint. Zu viel ins und ums? Finde ich manchmal auch.
Metaparahypermega
Nach all den Metaphern, Metaebenen und Metastasen ist es an der Zeit, zurück zur Ursprungsfrage zu kommen: Was ist „Videospieltext“? Wie wir gesehen haben, handelt es sich um ein Phänomen, das sich nicht in wenigen Sätzen (und schon gar nicht in einem kurzen Essay) hinreichend beschreiben lässt. Neben dem Problem der verschiedenen Ebenen (zählen wir den Programmcode z.B. hinzu oder nicht?) ergeben sich im Verlauf der Videospielentwicklung einfach zu viele Möglichkeiten, wie sich der Text präsentieren kann. Was bis anhin häufig zwischen zwei Buchdeckeln stattfand, passiert auf dem Bildschirm in weitere Dimensionen erstreckt. Wir haben Interaktivität, semantisch-syntaktische Werte mit pragmatischer Auswirkung, bestimmte Adressaten und Text-Spielräume als Charakteristika angegeben und sind trotzdem erst noch am Anfang. Dabei pendelten wir immer mal wieder (ungewollt) zwischen Linguistik und Literatur hin und her. Was aber wohl zeigt: es gibt an Videospieltexten mehr zu entdecken als „All your base are belong to us“. In diesem Sinne:
In der Mitte dieses – sehr interessanten! – Beitrags ist anscheinend eine Grafik abhanden gekommen.
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