Von JÁNOS MOSER.
Spätestens mit Tales of Arise (2021) ist das Genre der japanischen Rollenspiele auf der neusten Konsolengeneration angekommen. Das Spiel, das sich rund fünf Jahre in Entwicklung befand, sollte auf der PS5 nicht nur erweiterte Käuferschichten erschliessen, sondern der Tales of-Serie auch die dringend benötigte Anpassung an die moderne Gaming-Ära geben. Obwohl der Vorgänger Tales of Berseria (2016) von der Kritik gut aufgenommen wurde, schien es der Serie in letzter Zeit an neuen Impulsen zu mangeln. Dem steuerte der Entwickler Bandai Namco mit einigen Änderungen entgegen. Abseits der Frage, ob diese funktionieren, müssen wir uns aber eine viel wichtigere stellen: funktioniert das JRPG-Genre heute überhaupt noch?
Eine Frage der Dynamik
Sprechen wir über das Genre, müssen wir über Dynamik sprechen. Denn ob man es glaubt oder nicht: das war der Punkt, der die ersten JRPG-Vertreter wie Dragon Quest I oder Final Fantasy I zu ihrer Zeit von den damaligen Rollenspielen unterschied. Aber was definiert «Dynamik» in einem Videospiel? Ich würde vorschlagen, zwei Arten von Dynamik abzugrenzen: Spieldynamik und Erzähldynamik. Bekanntlich orientierten sich Computer-Rollenspiele in den Achtzigern noch stark an der Dynamik ihrer analogen Vorbilder, sprich Pen’n’Paper-Games wie Dungeons’n’Dragons. Letzteres nahm den vermeintlichen Kernpunkt von Tolkiens Fantasy – Abenteurergruppe erfüllt Quests – und quetschte ihn in ein Regelsystem. Games wie Wizardry setzten selbiges mehr oder weniger geschickt in digitaler Form um. Das heisst, der Spieler hatte sich zunächst und vor allem um das Verteilen von Statuspunkten zu kümmern, bevor es überhaupt losgehen konnte, und hielt sich in endlosen Menüs mit der Charaktererstellung und -entwicklung auf. Während westliche Rollenspiele diese Tugenden (oder Mühseligkeiten) mehr oder weniger beibehielten und sich damit eher statistisch oder eben statisch anfühlten, hielten sich FF und Dragon Quest nicht gross mit anpassbaren Charakterwerten auf, sondern präsentierten diese sogleich vorgefertigt. Bei FFI etwa wählt man zwischen wenigen Klassen, gibt den Figuren einen Namen und kann dann sogleich loslegen. Schon ab FFII fällt selbst die Erstellung der Gruppe weg und gibt uns gleich Action. Und ja, es gab eine Zeit, wo das FF-Kampfsystem als «actionreich» gegolten hätte, zumal man im Kampfbildschirm nicht nur die Gegner und die eigene Truppe auf dem Bildschirm sieht, sondern auch die Attacken. FF war somit weitaus einsteigerfreundlicher als andere Genrevertreter. Man könnte auch sagen simplifiziert, aber gerade diese Simplizität trug zur Popularisierung und damit zur Herausbildung eines eigenen Genres bei. Neben Einfachheit würde ich auch Geschwindigkeit, Responsivität und Regelveränderung als Merkmale hoher Spieldynamik zählen. Die FF-Kämpfe dauerten meist nicht mehr als eine Minute, waren also schnell, die Welt reagierte auf Aktionen des Spielers (bspw. Rettung von NPCs), war also responsiv, und es gab auch Regelveränderungen: etwa durch die Implementierung von Minispielen. Je nachdem, wie geschickt diese Elemente einander ergänzten, waren die FF-Games also sehr dynamisch, obwohl sie z.B. keine freie Entscheidungen zuliessen (das freie Entscheiden würde m.E. unter die Responsivität fallen, stellt also nur einen Aspekt von Spieldynamik dar). Ergänzend dazu kommt noch die Erzähldynamik. Gibt es brodelnde Konflikte zwischen Charakteren? Plottwists und unvorhergesehene Abgänge oder Auftritte? Gibt es mehrere, vielleicht sogar einander entgegengesetzte Handlungsstränge? Zur Bemessung würde ich hier drei Merkmale setzen: Konfliktpotenzial, Figureninteraktion, Perspektivwechsel. Während westliche Rollenspiele nach FFI definitiv auch immer dynamischer im Gameplay wurden, war es eben das Erzählerische, woran es vielen Games westlicher Machart bis weit in die 2000er-Jahre mangelte. So etwas wie die berühmte Opernszene aus FF6, wo sich mehrere Handlungsstränge vor dem Subplot einer Oper vereinen, hatte man bis dato (und vielleicht auch seither) einfach nicht gesehen. Ein Paradebeispiel für gute Erzähldynamik in einem Game wäre wohl auch der Beginn von FFIX: Im Zeitraum der ersten Stunde steuert der Spieler abwechselnd drei verschiedene Charaktere, wird mit mindestens sechs verschiedenen Subplots bzw. Konflikten Bekannt gemacht und erlebt zahlreiche Wendungen und schnelle Interaktionen mit, alles in medias res. Im Vergleich: Die Haupthandlung von Skyrim beginnt gerade mal mit einer Wendung (Angriff des Drachen und Flucht nach Weisslauf).
Neue Action
Obwohl es gerade so klang, soll hier natürlich nicht die Überlegenheit von FF und co. über Skyrim gepredigt werden. Na ja, vielleicht ein bisschen. Aber wo wir schon dabei sind, Dinge in den Raum zu werfen, so würde ich die These wagen, dass sich die Dynamik moderner Spiele nicht nur zugunsten der Spiele «westlicher» Machart verschoben hat, sondern sich längst und viel besser auch in anderen Genres zeigt. Denn seit einigen Jahren steht nicht nur Dungeons’n’Dragons, sondern auch Hollywood Pate für die Spitze der Gaming-Blockbuster. Spielereihen wie Uncharted haben neue Wege spielbarer Action aufgezeigt, die den Begriff «Dynamik» in Games gänzlich neu definiert. In mühelos miteinander verwobenen Gameplay- und Film-Szenen kämpft sich der Held Nathan Drake durch den Frachtraum eines Flugzeugs, wird über die Laderampe hinausgeschleudert, kann sich, an einem Netz entlanghangelnd, in letzter Sekunde wieder hineinkämpfen, nur um dann mitsamt Flugzeug abzustürzen und dank einem an einer Frachtkiste befestigten Fallschirm unbehelligt in der Rub’ al Khali-Wüste zu landen. Die ganze Action kommt dabei ohne spürbare Unterscheidung zwischen Gameplay und Filmsequenz aus und legte so u.a. das Fundament dafür, wie ein dynamisches Spielerlebnis auszusehen hat. Diese neue Dynamik bewegt sich auf einem anderen Level als noch bei der klassischen Erzähl- bzw. Spieldynamik, da Gameplay und Handlung nahezu identisch sind. Es macht hier also auch keinen Sinn mehr, zwischen der Art, wie die Handlung erzählt wird, und der Interaktion zu differenzieren, da beides miteinander verschmilzt. Andererseits kann Uncharted 3 fairerweise auch nicht als Kriterium gelten, wie wir in Zukunft Rollenspiele bewerten. Der Vergleich sollte nurmehr aufzeigen, was in Sachen Dynamik in Games mittlerweile möglich ist. Gemessen daran bewegen sich Rollenspiele, ob östlicher oder westlicher Provenienz, in ruhigeren Fahrgewässern. Sie wechseln gemächlich zwischen klar definierten spielbaren Abschnitten und Zwischensequenzen und halten noch weitgehend an der von mir festgelegten klassischen Dynamik-Dichotomie fest – was für ein Rollenspiel wie Tales of Arise, das ein Next-Gen-Erlebnis verspricht, zum Problem wird.
Statische Figuren
Es ist nämlich nicht zu leugnen, dass sich japanische Rollenspiele in den letzten Jahren immer altbackener – d.h. auch undynamischer – angefühlt haben. Während sich Games wie Dragon Age, The Witcher III oder Mass Effect darauf konzentrieren, Aspekte ihrer Spieldynamiken immer ausgeklügelter zu gestalten – etwa, indem unsere Entscheidungen immer weitläufigere Konsequenzen haben und die Open World zum lebendigen Spielplatz wird – sind JRPGs nicht nur in Sachen Interaktionsmöglichkeit, sondern auch in ihrer wahren Stärke, der spannungsvollen Erzählweise, auf der Stelle getreten oder haben sich sogar zurückentwickelt. Die Handlung von Tales of Arise wird relativ starr und langweilig erzählt: es gibt nicht einen Moment, in dem die Charakterriege nicht als nettes Grüppchen einem gemeinsamen Ziel hinterherrennt. Es gibt weder verschiedene Interessen noch Wege, diese zu erreichen. Alle paar Meter folgt eine Cutscene, in der die Gruppe einvernehmlich das weitere Vorgehen bespricht, worauf man wieder ein paar Meter läuft, bevor dann die nächste Besprechungs-Cutscene stattfindet. Alles ist Besprechung, nichts Dynamik; die Gespräche wirken aufgebläht, aber nichtssagend. Cutscenes, sind nicht per se schlecht – im Gegenteil, sie bieten ja gerade Raum für Interaktion und Konfliktpotenzial – aber nicht, wenn sie einen einschläfern. Natürlich sind die Figuren farbenfroh und höchst unterschiedlich, doch letztlich haben sie nur wenig Reibungsfläche. Die optionalen Interaktionen bestehen oft einfach aus filler-content, in dem das bereits Besprochene nochmals statisch (wenn auch nicht so statisch wie Skyrim) durchexerziert wird. Dieses Problem hatte auch schon Berseria, das wurde aber sowohl durch die auflockernde Stimmung dieser Skits entschärft als auch durch die gelungene Figurendynamik. Eine schlecht gelaunte Rächerin wie Velvet brauchte einen Harlekin wie Magilou, ein unschuldiger Laphicet eine ernste Vaterfigur wie Eizen. Die Figuren in Tales of Arise ergänzen sich zwar in ihrer Verschiedenheit, brauchen einander aber nicht, ausser, der Plot diktiert es ihnen. Dabei böte die Prämisse des Spiels genügend Potenzial: es geht um einen interplanetaren Konflikt. Die Bewohner des hochentwickelten Planeten Rena versklaven die Bewohner des mittelalterlichen Dahna, wobei das gebeutelte Dahna Spielplatz für die grausame Machtkämpfe unter den Renäern wird. In den letzten zehn Stunden des Spiels erwarten einen dann auch ein paar interessante Plottwists diesbezüglich – nur schade, dass sie so spät und ungeschickt daherkommen (à la «tell, don’t show») und sich mehr danach anfühlen, als hätten die Entwickler am Ende zu viel Geschichte und zu wenig Inhalt übrig gehabt. Auch der Humor, eine weitere beliebte Eigenheit japanischer Rollenspiele, bleibt diesmal leider grösstenteils auf der Strecke; es ist anzunehmen, dass das Spiel für die neue Generation «erwachsener» wirken sollte. Und ist er weg, bleibt eben nur noch die mahnende Botschaft übrig, dass Freundschaft wichtig sei. Insgesamt verschenkt Tales of Arise, was die Handlung und Figuren angeht, allzu vieles, was besonders schade ist, da die Welt atmosphärisch wirkt und schön anzusehen ist.
Isolierte Reiche
Dass die Handlung von Tales of Arise Schwächen hat, wurde deutlich. Aber wie sieht es mit dem Gameplay aus? Gehen wir von den erwähnten spieldynamischen Kategorien aus, schneidet das Spiel auch eher mau ab. Beginnen wir mit der Simplizität. Es ist wahr, das Kampfsystem von Tales of Arise bietet einen schnellen Einstieg und ist intuitiv. Im Vergleich zu früheren Tales of-Games hat es nochmals einen deutlichen Schritt vorwärts gemacht. Es macht wirklich Spass, die Gegner, auf die man in der Oberwelt trifft, in den Kampfarenen wie in einem Beat’em’Up auseinanderzunehmen, und ist auch nicht mehr stumpfes Knöpfedrücken wie in Berseria. Das Kombosystem, mit dem man zwei Charaktere einen finalen Boost-Schlag gegen ein geschwächtes Monster ausführen lassen kann, erinnert an Chrono Trigger. Weniger simpel ist der Schwierigkeitsgrad. In der Post-Dark Souls-Gamingwelt steht vermeintlich fest, dass die Spieler nicht nur Spass haben wollen, sondern auch eine Herausforderung suchen. Deshalb ist Tales of Arise so eingerichtet, dass man gefühlt immer zu wenige Heil-Items in der Tasche hat und dass die Kämpfe, besonders gegen Ende, viel lange dauern. Der Fachbegriff dafür lautet «slogfest», die Gegner sind «bullet sponges». Es ist offensichtlich, dass die Entwickler von Arise nicht wussten, wie die Schwierigkeit ihres Spiels sinnvoll zu erhöhen sei, weshalb sie auf diese miesen Tricks zurückgegriffen. Besonders schlimm: der Zugang zu mehr In-Game-Währung, mit der man sich genügend Items kaufen könnte, ist hinter einer DLC-Paywall versteckt … Nun, weiter … Unter Responsivität verstehe ich, wie bereits erwähnt, die Möglichkeit des Einflusses auf die Spielewelt. Diese ist bei JRPGs immer insofern gegeben, als dass man am Ende die ganze Welt rettet. Haben in Arise die Aktionen des Spielers aber auch sonst Einfluss auf die Umwelt? Jein. Der versklavte Planet Dahna ist in fünf Reiche unterteilt, in denen fünf renäische Lords regieren. In der ersten Hälfte des Spiels ist haben wir die Aufgabe, diese fünf Lords zu stürzen und ihre Reiche zu befreien. Unsere Aktionen haben zwar einen gewissen Einfluss – nach dem Sturz des jeweiligen Lords ist das betreffende Reich eben befreit – doch die Folgen unseres Befreiungskampfs sind seltsam isoliert, d.h. unsere Aktionen im einen Reich nehmen, mit wenigen Ausnahmen, kaum Einfluss auf die Geschehnisse im nächsten. So hat man es nicht nur mit merkwürdig getrennten Welten zu tun, sondern auch einsamen story-arcs. Das spiegelt sich leider auch in den Maps wider. Verliehen früheren JRPGs die Weltkarten, über die man wanderte, einem das Gefühl für die Grösse des Planeten u.ä., hat man hier zu keiner Zeit den Überblick über ein grosses Ganzes. Städte, ja ganze Reiche bestehen bloss aus den erwähnten Levelschläuchen, in denen blasse und leblose NPCs herumsitzen. Was Minispiele oder sonstige angenehme Abwechslungen betrifft, so gibt es in Tales of Arise keine ausser das Fischen (ein Menü, in dem man Bauernhoftiere in einen Stall setzen kann, zähle ich nicht als Minispiel). Oh, und eine weitere Ablenkung von der Hauptgeschichte, und das eher im negativen Sinn, sind die Nebenquests, die zu neunzig Prozent aus «Finde Zutaten X und Y» oder «Besiege Monster Z» bestehen und erst noch die einzige Möglichkeit bilden, an Geld zu kommen. Nebenquests waren eigentlich schon immer eher ein Steckenpferd von Skyrim und co., nicht von JRPGs. Es scheint, als hätten sich die Entwickler lediglich deshalb zum Ziel gesetzt, möglichst viele davon einzubauen, um den westlichen Markt ein- und die modernen Spieler abzuholen. Aber Dorfbewohner sind in JRPGs traditionell immer etwas blass, also begeistern auch ihre Quests nicht. Ja, was soll man da sagen … alles in allem haben die aufgezählten Punkte zur Folge, dass die Welt von Tales of Arise sehr zerstückelt und abgebrochen wirkt. Zwar werden Modernisierungsversuche unternommen, aber alles wird auf halbem Weg fallengelassen, die einzelnen Teile ergeben kein Gesamtwerk mehr. Es kann somit auch keine sinnvolle Dynamik entstehen, sei es auf der erzählerischen oder spielerischen Ebene.
Das Problem des Genres
Das war viel Negatives auf einmal. Ist Tales of Arise wirklich so schlecht? Ich habe es durchgespielt, also konnten mich die flotten und aufwändig inszenierten Kämpfe, zumindest in der ersten Spielhälfte, doch bei der Stange halten, ebenso die Plottwists, wenn sie auch viel zu spät kamen und platt erzählt wurden. Mit dem Gesagten wollte ich nicht primär das Spiel schlechtmachen (das auch ein bisschen), sondern vor allem darauf hinweisen, dass man ähnliche Kritik an sämtlichen JRPGs der letzten Jahre üben könnte. Der Grund dafür ist, dass sie in einer seltsamen Zwischenwelt schweben. Einerseits werden spieltechnische Modernisierungen eingeführt, die man auch aus westlichen RPGs oder anderen Genres kennt, andererseits schaffen sie es nicht, über sich selbst hinauszuwachsen. Im schlimmsten Fall, wie bei Tales of Arise, hindern sich die beiden Bestrebungen – Modernisierung und Prinzipientreue – gegenseitig an ihrer Entfaltung. Kommen wir also zur Frage zurück, ob JRPGs heute noch funktionieren. Ich finde: Sie täten es, wenn man an der richtigen Stelle ansetzen würde. Next-Gen-Grafik, streamlining und DLCs sind das eine. Aber eine abwechslungsreich erzählte Geschichte braucht mehr als das.