Freies Feld

Doki Doki Literature Club Plus!

Von JÁNOS MOSER.

Anmerkung: Dieser Text enthält Spoiler.

Doki Doki Literature Club! erschien als Gratis-Downloadgame 2017 auf Steam. Das mittlerweile zum Kultspiel avancierte Projekt eines kleinen Indie-Studios wurde kürzlich in einer erweiterten Plus-Fassung auch für die Konsolen veröffentlicht. Bei Doki Doki handelt es sich auf den ersten Blick um eine Dating-Simulation bzw. Visual Novel, einer spielbaren Geschichte mit einfachen Hintergründen und Textboxen. Darin wird man als Highschool-Schüler von seiner Kindheitsfreundin Sayori dazu eingeladen, einem Literaturclub beizutreten. Die Mitglieder des Clubs sind, Anime-typisch, allesamt liebeshungrige Schülerinnen, die es darauf abgesehen haben, die Gunst der Ich-Person bzw. des Spielers zu gewinnen. Umgekehrt hat der Spieler die Wahl, welcher der Schülerinnen er imponieren will, indem er ihr Gedichte «schreibt». «Schreiben» in Anführungszeichen, weil der Schreibakt lediglich darin besteht, in einem anspruchslosen Minigame rund zwanzig Wörter aus einem Paradigma auszuwählen, die dem einen oder anderen Mädchen gefallen könnten. Klingt simpel, aber bald wird daraus eine Horrorgeschichte – und mehr.

doki1

All work and no play

Zunächst zum Horror. Im Unterschied zu «gewöhnlichen» Dating-Simulatoren haben die Entscheidungen, die wir treffen, schlimme Konsequenzen. Alles scheint auf ein böses Ende hinauszulaufen – unsere Befürchtungen bestätigen sich, als wir eine der Protagonistinnen erhängt in ihrem eigenen Zimmer vorfinden, in den Tod getrieben durch unseren gedankenlosen Egoismus. Ein zweiter Durchlauf des zweistündigen Leseabenteuers scheint angezeigt, in denen wir unseren Fehler wieder rückgängig zu machen versuchen. Aber das stellt sich als Täuschung und erschreckender schwarzer Abgrund heraus. Denn alles, was in Doki Doki ab diesem Punkt geschieht, legt es darauf an, den Spieler zu verunsichern, zu verwirren und mit einem flauen Gefühl im Magen zurückzulassen, löst also überhaupt nicht das aus, was man sich von einer Dating-Sim wünscht. Buchstaben, Bilder verzerren sich, «Glitches» färben den Bildschirm rot. Die Musik, in einem Moment noch fröhlich und unschuldig, verwandelt sich im nächsten plötzlich in ein dumpfes, düsteres Brodeln. In den Gedichten, die man mit den Mädchen austauscht, steht plötzlich überhaupt nicht mehr das, was sie im ersten Spieldurchlauf beinhalteten. Manche sind blutrünstig, andere beängstigendes Zahlen- und Buchstabenwirrwarr. Beim Lesen überkam mich zuweilen die Erinnerung an eine bestimmte Szene aus Stanley Kubricks «Shining»: Als der Haus- bzw. Hotelsegen schon furchtbar schief hängt, überfliegt Jack Torrances Frau Wendy das Manuskript ihres Mannes, an dem er seit Beginn ihres Aufenthaltes schreibt – und stellt mit wachsendem Entsetzen fest, dass da immer und immer wieder nur ein einziger Satz steht: «All work and no play makes Jack a dull boy.» Die stumpfe Wiederholung dieses Satzes wäre bei einem Poetry Slam wohl nichts weiter als ein schlechter Gag, in der klaustrophobischen Atmosphäre des Hotels markiert sie jedoch unmissverständlich die Präsenz des Bösen. Ebenso sind die Gedichte, die man in Doki Doki zu lesen bekommt, keine grosse Literatur, aber was ihnen an Substanz fehlt, machen sie durch den Kontext, in dem man sie liest, wieder wett.

Creepypasta im Metaverse

Bisher lässt einen das Ganze an eine mehr oder weniger geschickt umgesetzte Version der im Internet kursierenden «Creepypastas» denken: u.a. über die gleichnamige Internetseite verbreitete, von Usern fabrizierte Horrorgeschichten, die meist Dinge wie verfluchte Videospiele zum Thema haben. Erinnert ihr euch an die unheimliche Musik, die in Pokémon Rot & Blau in der Stadt Lavandia und im Pokémon-Friedhof zu hören waren? – Nun, als ich letzthin ein zerkratztes Pokémon-Modul von einer alten, zahnlosen Frau auf dem Flohmarkt abkaufte und in meinen Gameboy steckte, spielte diese Musik im Startmenü. Ausserdem stellte ich fest, dass sich das Modul nicht mehr aus dem Gameboy entfernen liess und meine Familienmitglieder auf einmal alle zu Geistern geworden waren. – Ganz so simple Effekte nutzt Doki Doki natürlich nicht, um seinen Horror zu entfalten, wie mein obiger Vergleich mit Shining deutlich zu machen versuchte. Aber der Horror, der sich beim Spielen von Doki Doki aufdrängt, ist, wenn auch psychologisch geschickt eingefädelt, gar nicht der eigentliche Clou des Games, sondern die Metaebene. Allmählich wird nämlich klar, dass etwas oder jemand das Spiel manipuliert, der oder die Zugriff auf die Dateien hat, symbolisiert durch ein Betriebssystem namens «Metaverse». In das Betriebssystem kommt man, indem man im Startmenü des Spiels die «Beenden»-Option auswählt. So gelangt man auf einen fiktiven «Desktop», auf dem man sich die einzelnen Spieldateien ansehen kann. Ein Teil der Handlung von Doki Doki erstreckt sich auf ebendieses Metaversum und durchbricht mit diesem Kniff die vierte Wand. Und ab da wird Doki Doki so richtig beunruhigend. Die zu Beginn des Spiels angezeigte Warnung, man würde «kein positives Erlebnis haben», wenn man unter Angstzuständen und Depressionen leidet, dürfte eine gewisse Rechtfertigung haben. Glücklicherweise kann man sich nach dem Durchspielen dazu entscheiden, das Game zu deinstallieren.

Horror für Anime-Nerds

Einige Reddit-User waren so findig, die Dateien des Spiels genauer zu untersuchen und sind dabei auf eingebaute Hinweise des Entwicklers gestossen, eine Art Schnitzeljagd, die ein weiteres Horrorspiel ankündigen soll. Meines Wissens ist daraus aber (noch) nichts geworden. Seit Erscheinen von Doki Doki breiten effekthascherische YouTube-Videos Theorien über ein Spiel hinter dem Spiel («The Eye of Markov») aus, die den Eindruck von Promotion machen und für mich an dieser Stelle eher weniger interessant sind. Das Metaversum und die Manipulation von Dateien, also die Mittel, durch die das Game den Spieler an der Nase herumführt, sind für mich Ausgangspunkt von anderen Überlegungen. Offensichtlich spielt Doki Doki nämlich mit dem Dating-Sim-Genre, indem es nicht nur ein anderes Genre (Horror) darin einfliessen lässt, sondern auch den Spiess umkehrt: Plötzlich ist es nicht mehr der Spieler, der Kontrolle über den Code, die Synapsen von simpel programmierten 2D-Girls ausübt, sondern der Code ist es, der Macht über den Spieler erhält, sich selbständig macht und unvorhergesehen reagiert. So ist Doki Doki vielleicht die spielgewordene Angst jedes Anime-Nerds: Dass die (sexuellen) Träume, die er hegt, sich auf einmal von seiner Fantasie, in der er stets die Kontrolle behält, emanzipieren, unkontrollierbar werden. Der Spieler wird selbst zur Olimpia, zur Projektionsfläche einer grössenwahnsinnigen Figur, dem kein Wort mehr zusteht, der lediglich abnicken darf, was das Gegenüber von sich gibt. Indem man sich so plötzlich auf der «anderen Seite» wiederfindet, der des wehrlosen Objekts, dem die Wünsche und Träume eines «Subjekts» aufgedrängt werden, schöpft Doki Doki seinen existenziellen Horror, für den es im Grunde kein Blut, keine Schockeffekte gebraucht hätte. Diese sind nur Teil einer Ablenkungsstrategie, die den eigentlichen Horror des Gefangenseins in einer Fantasie, in einem flachen Abbild kaschieren.

doki2

Paradigma und Syntagma

Doki Doki handelt aber nicht nur von der 2D-Lebenswelt von Animefans, sondern auch von Literatur. Bei dem lachhaften Minispiel, das einen lediglich dazu auffordert, zwanzig Wörter auszuwählen, scheint das auf den ersten Blick nicht der Fall. Aber dahinter steckt mehr, als es den Anschein hat. Was zunächst seltsam auffällt, ist, dass man zwar durch Auswählen der richtigen Wörter das ausgewählte Mädchen beeindrucken kann, aber das eigentliche Ergebnis dieser doppelten Wahl wird gar nie offengelegt, das heisst, man bekommt die von eigener Hand «geschriebenen» Gedichte gar nie zu Gesicht. Gehen wir nach dem bekannten Satz des Linguisten Roman Jakobson, wonach die «poetische Funktion das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination» überträgt, also vom Paradigma ins Syntagma überführt, so handeln wir in Doki Doki als einäugige Poeten, die zwar das Paradigma bestimmen, aber vom Syntagma gar nichts mitbekommen. Ebenso sehen wir zwar durch Hüpf-Animationen, welches Wort welchem Mädchen gefällt und können uns selbst glauben machen, durch Wahl des «richtigen» Worts auf der richtigen Spur zu sein, aber wie oben deutlich wurde, sind die Konsequenzen unseres Anbandelns ganz andere, als wir uns erhofft hatten. Auch das Minispiel ist im Verlauf der Handlung den «Glitches» ausgesetzt. So erscheinen manche Wörter plötzlich als wirrer Buchstabensalat oder schreiben sich sogar über die Ränder des Notizbuchs hinaus. Am Schluss wird dem Spieler durch ein Gedicht die Unsinnigkeit seines Tuns vor Augen geführt: Das Paradigma besteht nunmehr aus einem einzigen, vorgegeben Wort. Indem er es zwanzig Mal anklickt, erhält er sogar eine Trophäe für das «perfekte Gedicht». Wie an keiner anderen Stelle verschränkt sich hier die Simplizität des Schreib-Minispiels mit einer literaturtheoretischen Position. Sie enthält einen psychologischen Aspekt: Alles Schreiben «für» jemanden, so könnte man aus ihr heraus argumentieren, ist letztlich Machtausübung; ist keine schöne, aus Inspiration geborene Geste, sondern Zwang in die eine oder andere Richtung, eine Echokammer, in der die Worte lediglich eine narzisstische Funktion erfüllen. Die andere, vielleicht noch tiefergehende Erkenntnis betrifft das, was man von Beginn an immer irgendwie geahnt hat, aber nicht wahrhaben wollte: Nicht nur das Syntagma spielt keine Rolle, sondern auch das Paradigma. Die Unterschiede zwischen den Wörtern fallen ins Nichts, sie haben immer nur eine einzige Konsequenz: Die Zerstörung einer wie auch immer gearteten Struktur. Dass nun Doki Doki diesen Poststrukturalismus – zumindest als Illusion – direkt auf seinen Code überträgt, die Mädchen zu Wörtern werden lässt, die der Spieler, von wachsender Angst geplagt, nicht mehr kontrollieren kann, ja, von seinem Wahn, Herr über die Sprache zu sein, selbst gefangengenommen wird, ist die grosse Kunst von Doki Doki. Spiele über Literatur gibt es ja sonst wenige; wenn, dann handeln sie von den literaturausführenden Personen, den Schriftstellern (meist männlich), die in ein Horrorszenario geraten. Der Horror von Doki Doki geht noch einen Schritt weiter und löst Verbindung von Sprache bzw. Code, und der Welt, wie man sie zu kennen glaubte, vollständig auf.

Die Grenzen des Spiels

Ab einem gewissen Punkt stösst Doki Doki damit natürlich an seine eigenen Grenzen. Es handelt sich schliesslich immer noch um ein Videospiel, das ein Subjekt mit einer KI letztlich nur vorgaukeln kann. Darüber hinaus ist es etwas schade, dass das Spiel am Ende (wie, sei nicht verraten) zu einem «guten» Abschluss kommt. Trotzdem hat mich Doki Doki durch die Kompromisslosigkeit, mit der es unbewusste Mechanismen von Nerds, die dazu neigen, von ihren eigenen Fantasien verführt zu werden, offenlegt, sowie seinen Take zu Literatur eine Nacht lang wachgehalten. Wem das zu meta ist, den oder die verstehe ich. Allen anderen würde ich Doki Doki unbedingt empfehlen und dazu raten, sich die ersten zwei Stunden durchzubeissen, bis es zum interessanten Teil kommt – es lohnt sich. Zum Schluss noch ein Wort zur Neuauflage für die Konsolen. Diese unterscheidet sich, wie ich mittlerweile recherchiert habe, kaum von der Originalversion und enthält keine nennenswerten Erweiterungen; es reicht also, sich das Spiel nur einmal zu holen und sich dafür umso intensiver damit zu beschäftigen.

Dieser Beitrag wurde von Yoshi geschrieben und am 24. Januar 2022 um 13:28 veröffentlicht. Er ist unter Gedanken, Reviews abgelegt und mit , , , , , getaggt. Lesezeichen hinzufügen für Permanentlink. Folge allen Kommentaren hier mit dem RSS-Feed für diesen Beitrag.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: