Von JÁNOS MOSER.
Man kennt das: Es gibt Wochen oder Monate, da rührt man den PS4-Controller kaum an, ohne wirklich zu wissen warum, und hat nicht die geringste Lust, ein Game länger als einen Abend auch nur anzuspielen, sei es noch so vielversprechend. Und dann, plötzlich, kommt ein Spiel, das einen endlich wieder packt, man ist vor den Bildschirm gefesselt und will nicht damit aufhören, bis man das Ende gesehen hat. Genau das löste A Plague Tale: Innocence (2019) bei mir aus, das ich am Weihnachtswochenende durchgespielt habe. Im linearen Abenteuer folgt man der Geschichte von Amicia und Hugo, zweier Kinder aus einer französischen Adelsfamilie im 14. Jahrhundert, die, von ihrem Landsitz vertrieben, durch die Inquisition verfolgt werden und sich einer unheimlichen Rattenplage erwehren müssen.
Cineastische Vorgänger
Schon einige Zeit hatte ich das Game dem Radar gehabt, aber mir nie dazu Zeit genommen, es auszuprobieren. Schliesslich gab es, wie ich dachte, viele ähnliche Titel auf dem Markt, die ich bereits gespielt hatte: Lineare Abenteuer mit Fokus auf die Geschichte, die eine leicht bekömmliche Mischung aus Schleichpassagen, Erkundung und Action bieten. In diese Kategorie fallen etwa Uncharted, The Last Of Us oder das Tomb Raider-Reboot. Besonders die Uncharted-Reihe hatte das Prinzip des „cineastischen“, anschmiegsamen Spiels eigentlich bereits perfektioniert, mit seinen reibungslos aufeinander abgestimmten Gameplay-Elementen, die viele Geschmäcker bedienen. Was kann da also ein mittelgrosser Titel wie A Plague Tale dem noch hinzufügen, zumal es sich um das Produkt eines eher unbekannten französischen Studios handelt, das zuvor vor allem Lizenzspiele entwickelte? So einiges, wie sich herausstellt. Obwohl es natürlich viele Fantasy- bzw. Mittelalter-Spiele gibt, merkte ich schnell, dass es anders war. Und zwar wegen des selling points: der Ratten. Durch ihre schiere Anzahl und Aggressivität stellen sie eine allgegenwärtige Bedrohung in der mittelalterlichen Welt dar und lassen sie buchstäblich lebendig erscheinen. Wie ein schwarzes, ekelerregendes Fluidum branden sie um die Knöchel der Figuren, sickern durch Löcher in den Mauern, unter Türspalten hindurch; ein falscher Schritt, und man wird von einem Meer aus dunklen Leibern verschlungen. Weder die Geschwister Amicia und Hugo noch ihre Feinde, die Handlanger der Inquisition, die schon mal schreiend mitsamt Rüstung unter den Ratten begraben werden, sind vor ihnen sicher. Neben dieser überformten Fantasie der Pest um 1350 treten in A Plague Tale die Auswirkungen weiterer historischer Ereignisse, wie dem Hundertjährigen Krieg, in Form riesiger Schlachtfelder voller toter Soldaten in Erscheinung. So entsteht auf dem Boden mittelalterlicher Geschichte ein Überbau fantastisch-albtraumhafter Elemente, eine Kombination, die so nicht an jedes beliebige Tolkien-Imitat erinnert, sondern das Konzept eines Umberto Eco-Romans sein könnte, hätte sich dieser statt Conan Doyle jemanden wie Lovecraft zum Vorbild genommen. – Auf alle Fälle steht fest, dass A Plague Tale kein Spiel für Mysophobiker ist.
Feuer, Pech und Schwefel
Das Einzige, was die Ratten auf Abstand hält, sind Lichtquellen, bzw. Feuer, welches die zweite elementare Kraft des Spiels ist. Diese können sich allerdings auch die Gegner zunutze machen. Im Kern ist A Plague Tale ein Schleichspiel, das heisst, eine Entdeckung durch die Inquisitoren kommt dem Bildschirmtod gleich. Mit ihrer Schleuder kann Amicia aber nicht nur unentdeckt Gegner ausschalten, es ist auch möglich, die Fackeln und Laternen auszulöschen, mit denen sie sich gerne umgeben, und so die Ratten auf sie zu hetzen. Später kommen dank der Alchemie noch weitere Mittel hinzu, um sich der Verfolger zu entledigen. Gepanzerte Gegner kann man etwa durch Bewerfen mit einer ätzenden Säure dazu zwingen, ihren Helm abzunehmen, was sie verwundbar für die Schleuder macht. Oder man lenkt die Ratten durch einen Lockstoff ganz einfach in ihre Nähe. Wenn auch die Möglichkeiten in den jeweiligen Situationen begrenzt bleiben, bietet A Plague Tale auf diese Weise etwas Abwechslung im Schleich-Alltag. Zudem sei hier Entwarnung für herzlose Egoisten gegeben: nein, A Plague Tale ist keine „Escort Mission“, auch wenn es danach aussieht. Obwohl Amicia ihren Bruder Hugo auf der Reise beschützen muss, ist es nur in den seltensten Fällen nötig, dies auch aktiv zu tun. Meistens hält sie Hugo an der Hand, ihr steuert also beide Charaktere gleichzeitig und müsst euch somit nicht mit einer nervigen Begleiter-KI herumschlagen. Die KI-Schwächen der Gegner fallen da schon eher ins Gewicht, die sich oft wie blinde Tölpel verhalten. Die übrigen Charaktere haben derweil wenig zu tun, ausser bei einigen Team-Rätseln zu helfen oder Soldaten abzulenken bzw. auszuschalten. Mit dabei sind wieder übliche Verdächtige wie Schalter, die von zwei Personen bedient werden müssen, oder im Duo zu meisternde Klettereien. Betrachtet man die Gameplay-Elemente als Ganzes, so wird klar, dass das Spiel abgesehen von den Ratten keine revolutionären Neuerungen bietet. Für einen Indie-Titel, der den Grossteil seines Budgets in die Präsentation steckt, bis zu einem gewissen Grad verständlich. Grafisch kommt A Plague Tale natürlich nicht an die Perfektion eines AAA-Titels heran, aber das macht der tolle Soundtrack wieder wett.
Ordnung trotz Chaos
Da das Gameplay also keine grossen Hürden bietet, konzentriert sich A Plague Tale, wie für solche Spiele üblich, auf das Erzählen seiner Geschichte und die Charaktere. Und die sind ziemlich gut. Hauptgrund dafür dürfte sein, dass die Klischees für einmal mit sinnvollem Inhalt gefüllt wurden. Zum Beispiel versuchten die Entwickler, Amicia bzw. den Spieler für das Töten von Gegnern mit Schuldgefühlen zu beladen, ähnlich wie schon bei The Last Of Us Part II. Hier funktioniert das aber besser als beim genannten Spiel, weil die man einer verfolgten französischen Adeligen eher zutraut, vom Tod entsetzt zu sein, als einem Mädchen mit Gewehr. Und vielleicht spreche ich da nur für mich, aber irgendwie kann ich Amicia mehr Sympathie entgegenbringen als der ewiggleichen Rachegeschichte von US-Rowdys, die das Gesetz in die eigenen Hände nehmen. Trotz der fantastischen Ereignisse rund um die chaotischen Rattenschwärme schwebt über A Plague Tale ein gewisser Sinn für Ordnung, die sich weder aus dem Recht und Gesetz des US-(Spiel)Kinos herleitet, noch aus dem Phantasma japanischer Erzählwelten. Zwischen den Geschwistern entstehen so manche lieblichen Momente, die ich für einmal nicht aufgesetzt und kitschig fand. Das heisst allerdings nicht, dass die Erzählung von A Plague Tale ohne Schwächen ist. Diese sind aber eher handwerklicher Natur. Nach einem starken ersten Drittel mit einem kontinuierlich ansteigenden Spannungsbogen nimmt die Geschichte leider doch zunehmend groteskere Züge an und verliert spätestens in der Hälfte an Fokus. Die Motivationen der Charaktere, die zu Amicia und Hugo stossen, werden zu wenig erklärt. Stellenweise (ebenfalls in der zweiten Hälfte) fragt man sich zudem manchmal, wie sich das eine oder andere Geschehnis zugetragen haben soll. Und die Dialoge bestehen, besonders ausserhalb der Cutscenes, für meinen Geschmack aus zu viel redundantem Geplapper. Insgesamt ist die Riege der Charaktere aber eigentlich liebenswert, wobei es mir vielleicht lieber gewesen wäre, hätten Amicia und Hugo ihr Abenteuer einfach zu zweit bestritten. Zum Schluss lässt A Plague Tale ausserdem ein paar Fragen offen, die dann wohl im Nachfolger (A Plague Tale: Requiem, geplanter Release nächstes Jahr) beantwortet werden.
Fazit
A Plague Tale: Innocence hat meine Erwartungen übertroffen, was «cineastische Spiele» betrifft, derer ich in den letzten Jahren, vor allem aber seit The Last Of Us Part II, ziemlich überdrüssig geworden war. Das liegt zum einen an der spannenden Geschichte, die mich vor allem zu Beginn wirklich reingezogen hat, zum anderen daran, dass das Game es viel besser schafft, mich mit den Figuren mitfiebern zu lassen. Amicia, Hugo und ihre Gefährt*innen sind keine Superhelden und ihr Abenteuer lässt sie auch nicht zu kaltblütigen Killermaschinen mutieren, wie das andere Spiele gerne handhaben. Das Erfolgsrezept für das Überleben in der Apokalypse heisst hier für einmal nicht «jeden gegen jeden», sondern Teamwork – Altruismus statt „stand your ground“. Wer die leichten grafischen Schwächen sowie eine manchmal zweifelhafte Gegner-KI verschmerzen kann, den erwartet ein spannendes und emotionales Erlebnis.