Von MATTHIAS HASLER.
Ja, man reibt sich schon etwas die Augen. Ein Pokémon Hype? Also ein echter, wirklicher Hype? Einer, der nicht nur, wie bei sonst den meisten Videospielen, die Fans eben jener Reihen betrifft? Und dieser Hype war nicht mal in den 90ern, sondern findet gerade statt?
Ja, es ist wirklich so. Die App „Pokémon Go“ schlägt ein wie eine Bombe: Innerhalb eines Tages spielte sie mehr als eine Million Dollar ein. Inzwischen spielen es weltweit schon 20‘000‘000 Menschen, obwohl es zunächst (legal ; ) ) nur in den USA, Australien und Neuseeland erhältlich war. Mittlerweile sind noch 28 weitere Länder, darunter auch die deutschsprachigen von Europa, dazugekommen.
Die 20 Millionen Menschen verbringen damit durchschnittlich 30 Minuten am Tag. Das ist mehr als Facebook oder andere sozialen Netzwerken, die durchschnittlich etwa 20 Minuten vorweisen können.
Die App kommt im Fernsehen oder Radio, man zeigt sie sich im Büro, sie wird in Zeitungsberichten behandelt und wieder andere machen sogar einen Live Ticker. Damit ist das Spiel ja wohl auf einer Stufe mit einem Fussballspiel oder dem Eurovision Song Contest!
Riesige Basis
20 Millionen User innerhalb kürzester Zeit ist sehr viel. Während die drei Spiele der ersten Generation noch insgesamt über 30 Millionen mal über die Ladentheke, waren es bei der letzten Generation im Falle von Pokémon X oder Y etwas mehr als 4 Millionen verkaufter Spiele innerhalb zweier Tage. Nach einigen Jahren waren es 7.7 Millionen, aber doch deutlich weniger als 20 Millionen. Natürlich ist es nicht dasselbe, wenn man eine Free-To-Play-App mit einem Vollpreistitel für den 3DS vergleicht, aber um den wirtschaftlichen Gewinn geht es gar nicht. Sondern darum, dass das Spiel viel mehr Personen erreicht, als die Haupteditionen.
Und die Haupteditionen gingen seit den 90ern schon mehr als 200 Millionen Mal über die Ladentheke. 200 Millionen Mal stand da jemand und entschloss sich, eines dieser Spiele zu kaufen. Deutschland, die Schweiz und Österreich hätten ja nicht mal mit Frankreich oder Italien und den Benelux-Staaten genügend Einwohner um auf diese Zahl zu kommen.
Dass dieses Franchise also eine gewisse Sog-Wirkung haben dürfte, sollte also geklärt sein. Und das mittlerweile sehr viel Leute Pokémon zwar kennen, aber nicht mehr spielen (wollen), ist klar. Zu kindisch, zu kindlich, zu langatmig, allgemein kein Interesse mehr an Videospielen, keine Lust etwa einen dieser „Game Boys“ zu kaufen oder was auch immer der Grund sein mag hält sie davon ab.
Wird das Spiel ihnen aber relativ diskret im App-Shop angeboten, der auf dem garantiert fast bei jedem vorhandenen Smartphone sowieso zu finden ist, sieht das ganze anders aus. Und kosten tut es ja eh nichts, warum nicht mal schauen?
Und so dürften die 20 Millionen User eigentlich keinen überraschen.
Selfie-Storys mit Fitness
Aber das Spiel bietet sehr viele Inhalte, die es auch für mehr Leute interessant machen, als das reine Gameplay. Einerseits ist es zwar nicht die erste vorhandene, aber die erste Massen-GPS-App. Via GPS wird ein selbstmodifizierter Avatar über eine vereinfachte Karte der echten Welt geschickt. Weil die Bewegung mit GPS funktioniert, muss sich der Spieler also auch in echt in Bewegung begeben, um sich auf der Spielwelt zu begeben.
Das alleine ist eigentlich schon cool, aber es kommt natürlich noch besser: Die Pokémon werden zu gewissen Teilen zufällig und zu gewissen Teilen nach irgendwelchen Logarithmen auf die Karte gesetzt, wo sie sich dann scheinbar zufällig über die Karte schleichen. Man kann sie verfolgen, ja jagen, um sie fangen zu können. Oder man geht einfach seines Weges und nimmt, was eben vor die Füsse fällt.
Die App umfasst die ersten 150 Pokémon, die für vielen einzig wahren Pokémon und zugleich auch ohne Zweifel die bekanntesten. Wenn man wirklich darauf aus war, die verlorenen Spieler der ersten Generation anzusprechen, hat man das ebenfalls sehr geschickt getan.
Die Pokémon selber erscheinen dann jeweils dort, wo gemäss ihrem Elementartyp der möglichst realistische Lebensraum wäre. Wasserpokémon leben bei Gewässern, Pflanzen und Käfer in Wäldern, Vögel und Käfer bei Wiesen, Psycho-Pokémon bei Spitälern (…), Feuer bei Tankstellen, Geister bei Friedhöfen, Fee bei Kirchen, Drachen bei Denkmälern, Stahl bei Stahlgebäuden, normale in Siedlungen… Ihr versteht?
Aber auch das Wetter hat einen Einfluss auf die Häufigkeit. Scheint die Sonne kommen Feuerpokémon, regnet’s kommen die Wasserpokémon. Und wenn es schneit kommen dann wohl die Eis-Wesen, aber das ist nur eine Spekulation.
Oder anders gesagt: Die reale Welt wird so in das Spiel eingebunden, dass die Umgebung wirklich einen Einfluss auf das Spiel hat. Wer Pflanzen-Pokémon sucht, muss sie im Wald suchen gehen. Und wer sich für Stahl-Pokémon oder Psychos interessiert, muss wohl oder übel in eine Stadt gehen.
Das ist cool! Aber es ist noch lange nicht alles: Es gibt auch noch Pokéstops, wo man neue Pokébälle und ab gewissen Leveln auch noch weitere Items finden kann. Diese sind an „Plätzen von öffentlichem Interesse“. Damit sind in erster Linie, wie mir scheint, markante Dinge gemeint zu sein, an denen man sowieso vorbei kommt: Von hier bis zum Bahnhof sind es fast fünf: Eines beim Spital, wo immer ein doch für Kinder etwas problematisches Traumato herumschleicht, eines beim Kreisel, eines bei nem Tor, eines bei der Bahnhofsuhr und eines bei den Gleisen selbst.
Logisch, dass sich diese Dinge bei eher stark-frequentierten Orten vorkommen: Immerhin muss man da ja auch hinkommen, um das Spiel spielen zu können. Und wer nicht genug Items findet, bezahlt sie eben…
Aber das wirklich tolle, ist ja nicht mal die Einbindung der realen Welt für ein Trainer-Abenteuer, sondern das Fangen der Kleinen. Wann immer eines in Reichweite ist, beginnt das Handy zu vibrieren. Ein prüfender Blick verrät, ob es sich lohnt, das zu fangen.
Wenn ja, beginnt ein Kampf: Durch die Kamera wird mittels Augmented Reality ein Pokémon in das Bild projiziert. Mit dem Finger streift man dann einen Pokéball, der sogleich fliegt und das Biest hoffentlich fängt.
Jetzt ist es natürlich so, dass diese Tiere immer kommen können. Einst lag ich gegen Mitternacht im Bett und erhielt Besuch von einem schaurigen Nebulak.
Als ich das Spiel in einem Kumpel Schwimmbad zeigen wollte, erschien mir, nachdem es den ganzen Tag geregnet hatte und es relativ kühl war, ein kleines Vulpix. Inmitten von diesem Wasser erwärmte mir dieses flammige, kleine Ding schon etwas das Herz.
Und als ich mal auf dem Nachhauseweg etwas genauer schauen wollte, ob ich vielleicht etwas begegne, kam sogar ein Raupy. Auf einem Fussgängerstreifen. Natürlich muss man jetzt klug handeln: Zu nahe an der Strasse und die Autos halten an. Dann muss ich die Strasse überqueren und verliere vielleicht das Raupy. Oder ich bleibe stehen und geh einfach nicht rüber. Wär zwar sehr peinlich, aber glücklicherweise fand ich eine gute Distanz zu dem Strassenrand und konnte das Raupy mit nur einem einzigen Ball fangen.
Und das Internet ist voller solcher Geschichten. Mal springt Krabby aus dem Kochtopf mit den Spagetti, mal findet da jemand in den USA dadurch eine echte Leiche und wieder andere spielen das Spiel sorglos in Auschwitz.
Das Internet ist voller lustiger oder fragwürdigen Storys, wann wo welche Pokémon erschienen sind und der Austausch darüber macht einfach Spass.
Tatsächlich muss sich das Spiel viel Kritik anhören, weil manche Leute es an unmöglichen Orten spielen. Ein Mädchen sei auf die Autobahn gerannt, hat mir meine Mutter bei unserem sonntäglichen Abendessen erzählt. Und ich habe ihr gesagt, dass dann ja wohl das Mädchen doof sei oder deren Eltern. Es habe noch weitere Unfälle in den USA gegeben, wirft mein Bruder ein, der von dem ganzen so gar nichts anfangen kann. Ich erwidere, dass ich in der Zeitung gelesen habe, wie sehr körperlich behinderte oder autistische Kinder von dem Spiel profitierten, weil sie nicht nur draussen spielen könnten, sondern sogar mit vielen Leuten in Kontakt kämen. Ich hätte einen Zeitungsbericht gelesen, der das sehr schön dargestellt hatte und einen Rollstuhlfahrer begleitet hätte, der ansonsten nie nach draussen gehen würde.
Wir streiten noch etwas weiter, bis ich erfahre, dass sich mein Bruder vor allem daran stört, dass es Pokémon sind, die man fangen muss. Wäre es etwas anderes, etwas cooleres, würde er es wohl auch spielen. Meine Mutter meinte dann zum Abschluss von unserem Disput, dass sie die Pokémon Go Spieler wohl sowieso nicht erkennen würde. Immerhin hängen doch eh alle schon am Handy. Stimmt natürlich. Eigentlich spielt es ja keine Rolle ob wir Freunden schreiben, uns aus Langeweile in Facebook herumtreiben oder irgendwelche Newsseiten besuchen.
Zerstückeltes Gameplay
Der Erfolg von Pokémon Go kommt auch daher, dass es das erste wirklich gute Handy-Spiel ist, das die Menschen massenhaft spielen. Klar gab es schon immer mal wieder gute Spiele für das Handy, aber wenn wir ehrlich sind, hat das eh kaum jemand bemerkt oder interessiert. Wer spielt schon freiwillig ein Handygame? Schlechte Steuerung, schlechte Grafik, schlechter Sound, schlechtes Gameplay und dafür häufig noch zahlreiche Möglichkeiten mittels Microtransactions Geld auszugeben oder von Werbung zugeballert zu werden. Und von gesammelten Daten wollen wir ja gar nicht erst anfangen! Handy-Games waren für den kurzweiligen Zeitvertrieb ganz gut, aber das war’s dann auch schon.
Pokémon Go ist da etwas ein Mischling: Es nimmt einige Elemente vom klassischen Pokémon und fügt Handy-übliche Dinge hinzu. Das Resultat ist ein Spiel, dass zwar auf dem Handy konkurrenzlos ist, aber natürlich nie und nimmer in Sachen Komplexität mit einem echten Pokémon-Spiel mithalten kann.
Die Pokémon leveln nicht mehr auf, sondern der Trainer. Und die Weiterentwicklung erfolgt nicht mehr via Level-Ups, sondern durch Pillen. Jedes gefangene Pokémon verfügt über die Pillen seiner Art. Für die Entwicklung sind 12 oder 50 Pillen notwendig. Also müssen zwischen drei und zehn Pokémon derselben Art gefangen werden, um eines zu entwickeln. Sorgt natürlich dafür, dass man immer wieder dieselben fangen muss und dass man es gerne macht. Aber leider sinkt dadurch auch die Möglichkeit das einzelne Wesen zu trainieren oder ihm individuelle Attacken zu lehren.
Die Kämpfe wiederum sind ebenfalls recht simplifiziert: Touchscreen statt Menü mit Knöpfe. Die Kämpfe sind nicht mehr rundenbasierend und statt aus einem Arsenal von 4 hoffentlich taktisch aufeinander abgestimmte Attacken greift das Pokémon jetzt einfach so an. Wer besser tippt, ist im Vorteil und nicht, wer die bessere Strategie in der Hinterhand hat. Das ist natürlich enorm schade, weil mit einer solchem Umstellung ein sehr grosser Teil des Gameplays verloren gegangen ist.
Eier, aus denen Pokémon schlüpfen können, gibt es zwar noch, aber die kann man nicht mehr selber produzieren. Es hat sich also auch ausgezüchtet.
Kämpfe zwischen Trainern gibt es nur in der Arena, aber nicht wenn man sich begegnet. Auch die Tauschmöglichkeiten gibt es nicht, obwohl mittlerweile sogar bekannt wurde, dass jeder Kontinent vermutlich über einzigartige Pokémon verfügt und man ohne Tausch nun mal auf jedem Kontinent sein müsste (mit Internetverbindung im Freien). In Europa gibt es übrigens das Psycho-Pokémon Pantimos, in den USA und Kanada Tauros, Kangama nur in Australien und das liebe Porenta nur in Asien. Ob es in Afrika oder Südamerika auch welche gibt, ist noch unklar.
Das Real-Life-Rollenspiel
Obwohl das Rollenspiel-Element natürlich mit Pokémon Go auf die Spitze getrieben wird, da man, um in die Rolle des Trainers zu schlüpfen, tatsächlich durch die Welt reisen muss und einigermassen „echt“ Pokémon einfangen muss, ist das Spiel also unter dem Strich viel zu sehr vereinfacht worden.
Aber die nächste Stufe wäre tatsächlich wohl so etwas wie ein „Massively Multiplayer Online Game“ im Real Life, was nur durch die Interaktionsmöglichkeit zwischen den einzelnen Leuten möglich wird. Ein flächendeckendes, globalisiertes Pokémonspiel wäre wohl Fluch und Segen zugleich: Afrikanische Pokémänner wie Pyroleo oder Girafarig könnten nur noch in Ländern vorkommen, wo auch die echten Vorbilder leben und umgekehrt könnten Meerespokémon nur noch auf Insel(-staaten) wie den Seychellen oder Mallorca vorkommen. Ein solches Spiel alleine zu bewerkstelligen, wäre fast nicht mehr möglich. Aber vermutlich gäbe es dort draussen genügend verrückte Leute, die auf der Suche nach Pokémon den Globus einmal komplett umrunden würden, was wohl die Beschäftigung des Menschen auf eine neue Stufe der Absurdität führen würde (aber gleichwohl per se nicht schlecht wäre). Andererseits wäre es für viele Leute sehr lukrativ: Schon jetzt gibt es Berichte, dass es in McDonalds (dem traditionellen Nintendo-Partner) beispielsweise häufig zu Begegnungen mit seltenen Pokémon kommt. Und andere Restaurants werben auch schon damit, dass es bei ihnen seltene Viecher zu fangen gäbe. Warum nicht die Lauer nach den seltenen Taschenmonstern Pizza-essend bereichern? Das schöne neue dekadente Leben der Pokémonjäger im dritten Jahrtausend ist unter dem Strich auch nur ein Business.
Ob es durch Updates oder eine neue Version dereinst so weit kommen wird, ist natürlich nur Spekulation. Ebenso unklar ist aktuell die Langzeitmotivation des Spiels, das ja eigentlich im Kern nur eine recht lieblose Wiederholung des immer gleichen beinhaltet. Pokémonfans sind in der Regel zwar treu, aber trotzdem kann der Hype so schnell versickern, wie er gekommen ist und nur die Zukunft wird zeigen, wie nachhaltig das Interesse an dem Spiel und der Pokémonwelt selbst gewesen ist.
„Aber auch das Wasser hat einen Einfluss“ meinst du nicht *Wetter*?
Hey und danke für deinen Kommentar! Du hast recht, „Wetter“ wäre bei dieser Stelle ein passender Begriff als „Wasser“. Werden wir natürlich ändern. Danke für den Hinweis 🙂
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