Freies Feld

Die Atlantide

Von JÁNOS MOSER.

Über eine der berühmtesten viktorianischen Abenteuergeschichten und deren Autor (Haggards She: A History of Adventure) wurde hier ja schon ausführlich gesprochen. Und obwohl etwaige Nachfolger wie Conan Doyles Lost World heute bekannter sein dürften, hat She schon damals so einige Nachahmungen provoziert. Eine davon ist Pierre Benoits L’Atlantide.  Darin geht es um die Geschichte des Offiziers Saint-Avit und seines Freunds Morhange, die in der Sahara auf die Überreste des sagenumwobenen Atlantis stossen, wo eine mächtige Königin namens Antinea herrscht. Was die beiden nicht ahnen: Jeden Mann, der die Wege der Enkelin des Poseidon kreuzt, erwartet ein schmerzvoller Liebestod. So weit, so gut: Die Ausgangslage ähnelt Haggards Roman abgesehen von den Schauplätzen beinahe spiegelbildlich.  Warum wurde Ayeshas Schwester im Geiste  aber vergessen, während Haggards Roman weltweite Erfolge feierte?

Binnenerzählungen

Die Antwort ist vielleicht einfacher, als man glaubt: L’Atlantide ist schlichtweg das schlechtere Buch. Das Beginnt mit – nun, wohl nicht gerade mit dem Anfang, denn dieser ist sprachlich wie erzählerisch sehr vielversprechend. Ein Militärangehöriger wartet in einem einsamen Posten vor der Schwelle der Sahara auf Saint-Avit, über den gemunkelt wird, er solle seinen Freund Morhange umgebracht haben. Kurz nach seiner Ankunft bestätigt Saint-Avit selbst das Gerücht, und man will gespannt wissen, wie es weitergeht. Aber ab hier beginnen die Probleme, denn leider fängt da eine knapp 250 Seiten umfassende Binnenerzählung über die Mission Morhange-Saint-Avit an, wo man doch die Geschehnisse lieber unmittelbarer erfahren hätte. Und zu allem Unglück bleibt das nicht die einzige Binnenerzählung im Buch. Da gibt es unzählige davon; und, um die Sache noch abgeschmackter zu machen, kommen darin von Napoleon über Mérimée bis hin zu Auerbach alle möglichen historischen Persönlichkeiten vor, die der Geschichte eine naturalistische Glaubwürdigkeit verleihen sollen. Abgesehen davon, dass es in den seltensten Fällen klappt, schwächelt das Buch ironischerweise gerade dort, wo es am glaubwürdigsten sein sollte: in den Szenen mit Antinea und ihrem Gefolge, nachdem die Truppe in Atlantis angekommen ist (kampfunfähig gemacht durch eine brennende Haschpflanze?). Die ägyptisch gewandete Herrscherin raucht Zigarren, spricht astreines Französisch, hat pokersüchtige Gefangene und spielt mit ihrem Schossleoparden. War Ayeshas altertümliche Sprechweise auch nicht gerade frei von ungewollter Komik, schafft es Benoit, das um seine Frauenfigur aufgebauschte Mysterium mit wenigen Szenen in Grund und Boden zu stampfen. Fast hat man Mitleid mit dem in Atlantis lebenden Gelehrten, der die beiden Neuankömmlinge von den zahlreichen toten Liebhabern Antineas unterrichtet und sich dabei so lächerlich geschwollen gebärdet, dass man die Szenen am liebsten überblättern möchte. Manche Passagen, etwa dort, wo über die Möglichkeiten von Antineas Machtausübung gesprochen wird, sind zugleich vulgär und viktorianisch-verklemmt.

Wissenschaft und Detailwissen

Die Motivationen der Figuren, das Atlantis-Setting und Antinea selbst bleiben blass und unglaubwürdig – der dramatische Schluss des Buches entschädigt dafür ein wenig. Und noch zwei Stärken hat Benoits Buch vorzuweisen: das eine ist die penible Einbettung von Atlantis in (imaginierte) wissenschaftsgeschichtliche Zusammenhänge, das andere ist die schiere Fülle an Detailwissen, das der Autor über afrikanische Völker (v.a. die Tuareg) und die Geografie der Sahara mitbringt. Die Detailfülle macht es zuweilen schwer, in das Buch reinzufinden, doch es ist in einem angenehmen Tempo geschrieben und schleppt sich trotz der Binnenerzählungen erstaunlicherweise weniger dahin als Haggards Roman, der sehr lange braucht, um in die Gänge zu kommen.  Man hat bisweilen das Gefühl, dass Benoit eine rein naturalistische Sahara-Abenteuergeschichte eher gelegen wäre, er aber leider versuchte, den Erfolg von She zu wiederholen und sich damit in phantastisches Gebiet verirrte, für das er als Autor zu ungeschickt war.

Pinselstriche

Das grösste Problem einer Frauenfigur wie Antinea (oder wahlweise jeder anderen dämonischen oder zauberischen Kraft) ist die Brüchigkeit ihrer Scharade. Ist nur ein Pinselstrich in ihrer Ausführung fehl am Platz, droht sie zur Komödie hinabzusinken. Manche (Selbst)Entwürfe treiben das Spiel bis zur Perfektion. Andere  lassen ihre Profanität allzu bald durchscheinen. Was die phantastische Abenteuergeschichte und die Zeichnung ihrer vollkommenen Herrscherinnen – ein Sinnbild für die Fantasie – so schwierig macht, ist die Gratwanderung zwischen Naturalismus und Märchen, die manchmal zum Absturz führt. Benoit ist abgestürzt: aus diesem Grund ist sein Roman bis heute ein obskurer Nischentitel geblieben.

Dieser Beitrag wurde von Yoshi geschrieben und am 7. Juni 2016 um 13:50 veröffentlicht. Er ist unter Porträts abgelegt und mit getaggt. Lesezeichen hinzufügen für Permanentlink. Folge allen Kommentaren hier mit dem RSS-Feed für diesen Beitrag.

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