Gastbeitrag von MATTHIAS HASLER.
Zugegeben, man braucht ein Weilchen um mit diesem Spiel warm zu werden. Als es im 2007 für den Nintendo DS erschien, kaufte ich es mir als langjähriger Zeldafan natürlich sofort. Schnell kam aber die Ernüchterung: Das Spiel war, wie die titelgebende Figur, recht seltsam. Das liegt auch daran, dass grosse Konventionen zunächst gebrochen werden: Die Story ist absurd, die Grafik zwar ansehnlich, aber doch eigen, die Dialoge sind knapp und bizarr und das Gameplay dürfte das wohl ungewöhnlichste sein, dass Nintendo jemals fabriziert hatte.
Tingle, der erstmals in The Legend of Zelda: Majoras Mask (2001) das Licht der Welt erblickte, wurde dort durchaus auch als eine Art Antilink eingeführt. Insofern ist es nur folgerichtig, dass sein Spiel ein Antizelda ist.
Jahre später griff ich erneut zu dem Spiel und stellte fest: Es macht unglaublich viel Spass, ja das Spiel mutierte gar zu meinen Allzeitlieblinge. Wer in die skurrile Welt von Tingle’s Rosy Ruppeland findet, entdeckt ein unglaublich gutes und ausgewogenes Spiel.
Das Leben des Tingle
Tingle führte kein aufregendes Leben. Er, Single und 35-jährig, gammelt zu Hause rum, langweilt sich und ist gefangen in seinem wohl nicht mal vorhandenen Alltag. Da brummt ihm eine mysteriöse Stimme zu, dass er dem entfliehen könne. Er solle zur Quelle kommen, dort warte die Erlösung. Dies tut der eifrige Tingle natürlich und trifft bei der Quelle auf einen himmlischen Rubin-Opa. Dieser erzählt Tingle gar schöne Sachen von einem Rubinland, wo man alles tun kann, was ein Tingle sich erträumen kann. Das Ganze hat aber einen Haken: Um ins Rubinland zu kommen, muss man ganz viele, viele Rubine einsammeln und sie in die Quelle werfen, einfach so.
Tingle ist natürlich begeistert und bekommt vom Rubinopa nicht nur ein Startkapital, sondern gleich noch sein berühmt-berüchtigtes Outfit geschenkt. Aber das war’s dann mit der Freundlichkeit, ab diesem Zeitpunkt erwartet einem nur noch die grausame, rubingeile Welt.
Nicht unweit von Tingles gemütlichem Häusle liegt nämlich die Stadt und was läge da näher als die mal zu besuchen? Die Bewohner dieser Stadt sind aber sehr unfreundlich. Sie klatschen Tingle (was wirklich niemand nachvollziehen kann) die Türen und Fenster zu und wollen erst mit ihm reden, wenn Tingle ein Freundschaftsbeweis in Form von Rubinen darlegt.
Damit wären wir bereits bei einem der zentralen Spielelementen: Das Handeln und Feilschen. Damit die netten Stadtbewohner Tingle überhaupt zur Kenntnis nehmen, muss man sie bezahlen. Damit sie mit ihm ein nettes Schwätzchen führen, muss man sie bezahlen. Damit sie einem weiterhelfen oder gar Dinge verkaufen, muss man sie bezahlen. Der Preis ist dabei von dem Ermessen des Spielers abhängig. Das Prinzip ist schnell erklärt: Möchte jemand beispielsweise für eine leere Flasche 100 Rubine sehen, wird er auch zu einem Angebot von 200 Rubinen nicht nein sagen. Umgekehrt wird er bei einem Angebot von 80 Rubinen diese zwar nehmen, aber die Flasche nicht rausrücken. So mit Tingle, weil er zuerst zu geizig war, also unter dem Strich 180 Rubine bezahlen.
Verständlich, dass man sich gerade am Anfang etwas verloren fühlt mit seinen wenigen Rubinen und alle Leute schon nur Geld wollen um Tingle überhaupt “Hallo” zu sagen und man nicht wirklich einschätzen kann, wie viel Wert ein “Hallo” hat. Diese Konzentration auf das liebe Geld gewinnt vor allem auch durch einen weiteren Fakt an Brisanz: Die Rubine sind nicht nur die Währung des Spiels und der Weg zum (vermeintlichen) Paradies, sondern auch gleich Tingles Lebenspunkte. Dieser fast schon philosophische Ansatz lässt den armen Tingle immer wieder etwas grübeln: Soll er jetzt Geld für ein Schwätzchen mit dem Torwächter der Stadt ausgeben, es lieber auf nimmer Wiedersehen in die Quelle werfen oder vielleicht doch lieber behalten, falls ein fieses Monster ihm an die Gurgel will?
Da wir schon beim Thema “Monster” sind: Auch die haben es natürlich ins Spiel geschafft. Tingle selbst kann aber nur beschränkt kämpfen. Berührt er ein Monster, erscheint eine Staubwolke. Er verliert, je nachdem wie stark das Monster ist, seine kostbaren Rubine. Um den Verlust zu minimieren, muss Tingle natürlich “kapitalistische” Massnahmen ergreifen. Die einfachere ist es, mit mehreren Monstern Kämpfe anzufangen. Je mehr Monster an einem Kampf teilnehmen, desto mehr Belohnungen schauen heraus. Schon ab zwei gleichzeitig bekämpften Monstern wird das Ganze einigermassen rentabel.
Der zweite Weg ist das engagieren eines Leibwächters. Diese Leibwächter sind so eine Sache. Grundsätzlich sind sie natürlich nötig, weil sie die Monster in den Staubwolken Schaden zufügen, aber gleichzeitig auch den Schaden von Tingle halbieren. Es gibt allerdings verschiedene Arten von Leibwächter mit jeweils verschiedenen Charaktereigenschaften. Manche Amazone stürzt sich ohne Rücksicht auf Verluste in jeden sich bietenden Kampf, ein depressiver Clown wiederum schaut eher zu wie Tingle stirbt. Natürlich gibt es auch Vollprofis, aber die haben, wie alles in diesem Spiel, eben ihren Preis.
Wie aber soll der arme Tingle all diese Ausgaben finanzieren können? Gute Leibwächter und nette Stadtbewohner finden sich ja schliesslich nicht von alleine. Nun, Tingle selbst lernt schnell von den Nachbarn in der Stadt. Wenn jemand krank im Sterben liegt und Tingle zufällig gerade den passenden Heiltrank geschenkt bekommen hat, kann Tingle dafür beispielsweise 1000 Rubine verlangen. Überhaupt rettet Tingle (wobei “retten” nun wirklich in der Regel der falsche Ausdruck ist) hin und wieder irgendwelche Hylianer und bekommt von ihnen oder ihren Angehören Cash als Dank.
Aber selbst Tingles Wucherpreise (welche ja aus den Zeldaspielen durchaus in Erinnerung geblieben sind…) können Tingles abenteuerliches Lebensstill wirklich finanzieren. Daher sammelt Tingle auch fleissig, was er finden kann. Er findet Zutaten und Schätze von besiegten Gegnern und pflückt ganze Plantagen leer. Mit all diesen Lebensmittel und Zutaten im Gepäck kann Tingle in seinem Heim Tränke zusammen brauen. Manche, wie die Bombe oder Heiltränke für die Leibwächter, sind recht nützlich, andere dienen nur dazu diese überteuert den Stadtbewohnern unterzujubeln. Eine weitere Einnahmequelle ist das Kartieren der Karten, was in der Regel recht problemlos über die Bühne geht.
Unkonventionelle Gameplay-Perle
Und so bereist Tingle, von seinem Leibwächter beschützt, fleissig die Kontinente, sammelt und braut und verkauft und wirft all das erbeutete Geld in die Quelle des seltsamerweise immer reicher werdenden Rubin-Opas. Die Handlung ist leider vorgegeben und Tingle kann sich auch nur bedingt seinen eigenen Projekten widmen. Kaum ist er etwas zu Geld gekommen und wirft dies nicht sogleich in die Quelle, wird ihm gedroht, dass all sein Fortschritt zunichte gemacht wird. Zwar hat es zahlreiche Geheimnisse auf den verschiedenen Inseln, aber wie gesagt, die kann man nicht wirklich in Ruhe aufspüren. Trotzdem macht das Spiel unheimlich Spass, wenn man sich nicht von ihm abschrecken lässt. Es leben allesamt kuriose Figuren in diesem Zelda-Universum, aber diese Figuren sind teilweise so absurd und auf Rubinversessenheit getrimmt, dass man die Dinge irgendwann nicht mehr hinterfragt und sie köstlich findet. So begegnet Tingle auf seinen Reisen beispielsweise dem Deku-Baum, der Tingle zur Kasse bittet, weil die Menschen den Wald verschmutzt hätten. Oder auf den überaus temperamentvollen und herablassenden Erfinder der berühmten leeren Flaschen. Ja, auch eine leere Flasche musste ja mal von irgendjemanden erfunden werden.
Wer allerdings Zelda sucht, wird sie nicht finden können. Tingle ist ein Antilink. Er kämpft nicht um das Königreich oder die Prinzessin zu retten, nein, er engagiert einen Leibwächter um noch an mehr Rubine zu kommen. Trotzdem merkt man dem Spiel hin und wieder an, dass es dem Zelda-Universum entschwabbt ist. Es gibt viele Anspielungen und selten, aber immerhin, gibt es noch wirkliche Tempel, welche sich an die Tempel aus Zelda anlehnen. Tingle hat sogar eine eigene “Antinavi”. Während die gute Fee Link in Ocarina of Time zwar oftmals etwas überflüssig, aber immerhin fundiert weiterhilft, hat Tingle eine nichts sagende, aber dauernd anrufende und verstörend „sexy“ angezogene Feenassistentin namens Pingle. Deren hilfreiche Tipps lauten meistens recht ähnlich (“Hallo Tingle! Hier ist Pingle! Das ist das Gebiet YXZ, das ist ja wirklich gefährlich! Pass also auf dich auf! Tschüssi!!” und transportieren meistens nicht mal ansatzweise eine Information zu dem Spieler. Was sich die Entwickler bei dieser eindeutig nicht hilfreichen Figur gedacht haben, wird wohl ein für immer gehütetes Geheimnis bleiben. Anders sieht es bei den anderen Gestalten dieser Welt aus. Sie sind ebenso skurril wie liebenswürdig, wie das in Zelda-Spielen ja mal üblich war. Auch verfügen einige durchaus über eine Hintergrundstory und eine persönliche Weiterentwicklung.
Das Schöne an dem Spiel ist der relativ grosse Anteil an reinem Gameplay: Keine ellenlange Dialoge, keine Szenen, keine sich wiederholende Missionen oder Trainingssessions, keine blöde Erklärungen oder Tutorials. Tingle bereist voller Entdeckerdrang eine wunderbare Welt, die immer exotischer und mystischer wird, was auch durch die eigentümliche Farbgebung wie violetter Gras wunderbar unterstrichen wird. Er erkundet alte Ruinen, findet immer wieder neue Zutaten für seine Rezepte, kartiert wieder neue Stellen auf der Karte oder trifft neue Charaktere, mit denen um den grösseren Gewinn gefeilscht werden kann. Das Spiel hat zwar einen relativ strikten Ablauf, aber in diesem kann sich der Spieler absolut frei bewegen und das abwechslungsreiche Spiel geniessen.
Das Sammel- und Zusammenbrausystem ist wirklich gelungen: Es gibt ständig neue Zutaten, aber niemals so viel, dass sie überflüssig oder wertlos erscheinen. Es ist in einem Grindingspiel eine hohe Kunst, dass Item-Management so zu gestalten, dass die Items nicht austauschbar sind, aber genügend oft Nachschub an neuen Items kommt, damit das Ganze nicht zu schnell langweilig wird.
Das Erzähltempo ist recht lahm, aber durchaus angenehm. Die Dialoge sind teilweise unglaublich plump, direkt und trocken, was aber zu dem Humor und der Atmosphäre des Spiels gehört.
Aber wie gesagt: Das Spiel bricht mit vielen Konventionen (aber nur, um sie dann anders doch irgendwie wieder zu erfüllen) und dürfte wohl nicht nur wegen seinem comichaften Look, sondern vor allem auch wegen Tingle selbst polarisieren. Der geldgeile Antiheld, der einen grünen Ganzkörperanzug und darüber eine rote Unterhose trägt. Und er zwinkert dem Spieler in einer „Kleinen-Mädchen-Pose“ kichernd zu. Und da gäbe es auch noch Gestalten wie Duke, der sehr freizügig angezogene Brückenbauer, der rein optisch aus einem Schwulenporno der 80er Jahre stammen könnte. Und auch eindeutige Posen und Geräusche macht. Der Humor des Spiels ist in vielerlei Hinsicht speziell, um nicht zu sagen, japanisch und wer für so etwas nicht offen ist, sollte die Hände davon lassen. Alle anderen werden ein wirklich tolles und krass unterbewertetes Spiel vorfinden (das übrigens aus kulturellen Gründen auch nie in den USA veröffentlicht wurde, sondern nur in Japan und Europa).
Eines meiner liebsten Nintendo DS Spiele überhaupt – und das, obwohl ich mich bis heute schwer damit tue, das Spiel über die ersten Spielstunden hinaus weiterzuspielen. Ein gewisser Frustfaktor ist doch vorhanden, aber die Originalität und die Verschrobenheit des Titels sind es wohl wert, dabei zu bleiben. Der Bauarbeiter ist übrigens der Hammer.
In Japan gab es übrigens sogar eine Fortsetzung. Schade, dass die es nie nach Europa geschafft hat…
Oder um es mit einem Zitat aus Rosy Rupeeland zu sagen: „Das war doch so schön bunt und lustig!“ 😉
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