Freies Feld

Out Run

Von SEBASTIEN FANZUN.

Sega’s Out Run is a different ball game altogether. It’s a racing simulation of sorts, but only in the sense that you’ve got to beat a time limit to move onto each new stage. The race itself is against the rest of the traffic on America’s highways – VW Beetles, saloon cars, lorries and the like. But you’ve got the edge. You’re in a bright red and very fast Ferrari.

– Clare Edgeley, Computer and Video Games, Januar 1987

180 km/h

Wer kennt es nicht: Man hält seinen Ferrari bei Hundertachtzig gerade noch so auf der Strasse, geniesst den Fahrtwind und den Tequila und setzt, da die Gegenfahrbahn vermutlich frei ist, zum Überholen der Arbeiterklasse an – und in diesem Moment gibt die notorisch unzuverlässige Mechanik, weil man zu hart geschaltet hat, oder weil der letzte Ölwechsel schon drei Tage her ist, oder weil man es unterlassen hat sich täglich drei Mal gen Maranello zu verneigen, den Geist auf. Schon sitzt man am Strassenrand neben einem dampfenden Vehikel und macht sich bewusst dass die Reparatur eines Kampfjets nur unwesentlich teurer ausfiele. Wer sich vor der Fahrt für Marihuana statt für Kokain entschieden hat, lässt sich davon nicht stören. Wer sich einen Ferrari tatsächlich leisten kann und sich dennoch einen gekauft hat, auch nicht. Für alle anderen gibt es glücklicherweise Out Run.

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250 km/h

Es wäre ein Zeichen mangelnden Feingefühls, Out Run (Sega AM2, 1986) so etwas wie einen eigentlichen Plot unterstellen zu wollen. Richtiger ist, dass das Game entlang eines Vektors funktioniert, nämlich: vorwärts; und dieser Vektor organisiert die beiden Handlungen des Games (beschleunigen bzw. beeindrucken) und deren jeweilige Objekte (Ferraris bzw. Beifahrerinnen). Dieser inhaltlichen Reduktion auf die grundsätzlichen Dinge im Leben entspricht eine formale Tendenz zur Flächigkeit, Horizontalität und Knappheit. Einen Rückwärtsgang gibt es nicht, nennenswerte Bremsen ebenfalls nicht. Die möglichen Handlungen beschränken sich auf Steuern, Schalten und Beschleunigen. Die Kamera ist tief angesetzt, was zugleich die Geschwindigkeit der Bewegung und die Unübersichtlichkeit ihrer Richtung betont. Denn während die ungewöhnliche Nähe zum Boden einerseits ein direkteres Gefühl von Beschleunigung verleiht als eine distanziertere Vogelperspektive, versperrt dadurch andererseits das Auto einen nicht unwesentlichen Teil des Blickfeldes nach vorne. Befindet man sich also beispielsweise auf der Kuppe eines Hügels, kann man unmöglich einsehen, was auf seiner anderen Seite liegt.

Was zunächst wie ein Makel erscheinen mag, ist doch im Gegenteil nichts als konsequent. Der in Out Run zelebrierte unbändige Vorwärtswille ist genau das: ein Wille nach vorwärts ungeachtet dessen, was in dieser Richtung eigentlich liegt. Ein vernünftiges Abschätzen der vor einem liegenden Strecke und ein gleichsam taktisches Reagieren darauf widerspräche diesem Willen, der dank der tiefen Kamera eben ein tatsächlich blinder Wille ist. Out Run liefert einem ja auch überhaupt keine Begründung, weshalb man denn nun so unaufhaltsam voranpreschen soll. Als „a driving game, not a racing game“ hat sein Entwickler, Yu Suzuki, es treffend bezeichnet: denn racing kann ja nur stattfinden, wo ein Gegner da ist, und Gegner gibt es in Out Run eigentlich keine.

Von Spielbeginn an geht alles ganz schnell: Unter einem Start-Banner schwenkt ein dickliches Kerlchen eine karierte Flagge, worauf es losgeht, in einem stets roten Ferrari, auf dem Beifahrersitz eine stets blonde Begleiterin; an einigen Tribünen linker Hand vorbei (für längere Zeit die letzten Lebewesen, die wir antreffen werden) führt die Fahrt durch verschiedene Landschaften, die wir in einem vorgegebenen und unaufhaltsam hinuntertickenden Zeitlimit hinter uns zu bringen haben. Am Ende werden wir inmitten einer Wüstenei an der Ostküste der USA von Kamelen sowie einem Wanderprediger und einer Art Harem empfangen. Am Ende jeder Landschaft steht eine Abzweigung deren linker Arm jeweils zu einer einfacheren, der rechte hingegen zu einer schwierigeren nächsten Strecke führt. Allen Gegenden ist gemein, dass sie ausser von uns auch von anderen Verkehrsteilnehmern befahren werden, die wenn auch nicht ganz so rücksichtlos, so doch ebenfalls mit massiv überhöhter Geschwindigkeit unterwegs sind. Mit 180 km/h dahindonnernde Lastwagenkolonnen – in der Realität abseits von italienischen Autobahnen doch eher eine Rarität – sind durchaus an der Tagesordnung. Praktisch, erreicht das eigene Vehikel die Zweihundertfünfzig ohne grössere Mühe. Und diese 250 km/h sind nicht, wie in vielen anderen Arcade-Rennspielen, wo die Skala gern auch bis siebenhundert geht, blosse Zahl ohne Konsequenzen fürs Spielverhalten. Neben der bereits erwähnten tiefen Perspektive ist insbesondere die Tatsache erwähnenswert, dass Out Run als erstes Rennspiel die Force-Feedback-Technik unterstützte, vermittels derer die Unebenheiten des Untergrunds als entsprechende Vibrationen des Steuerrads physisch umgesetzt wurden. Wer da mit hoher Geschwindigkeit von der Strasse abkommt, wird einigermassen kräftig durchgeschüttelt. Dazu kommt das erboste Schimpfen von Seiten der Beifahrerin, soweit die Dame beim Unfall nicht aus dem Wagen geschleudert wurde.

Auch aus diesem Umstand resultieren Kritikermeinungen, die Out Run als „frighteningly fast“ (Peter Shaw in Your Sinclair, August 1987) bezeichnen und ihm ein sehr prominentes „danger element“ (Clare Edgeley in Sinclair User, Februar 1987) unterstellen. Die Neigung der übrigen Fahrer zur tatsächlich als bedrohlich vermittelten Raserei bleibt dabei ebenso wie unser eigener Drang zu spektakulären Tempi erfrischend unerklärt. Das unaufhaltsam hinuntertickende Zeitlimit und die beschleunigungssüchtige Beifahrerin sind zweifelsohne Motivationen, aber keine Begründungen. Das Vorwärts ist vernunftlos, blinder Zweck an sich. (Man wäre versucht sich zu fragen, ob die Beifahrerin vielleicht Schopenhauer ist, der sich eine blonde Perücke übergezogen hat. Die Reizbarkeit der „Dame“ spräche dafür, ihr fröhliches Quietschen bei gelungenen Fahrmanövern vermutlich eher dagegen. Aber solcherlei würde zu weit führen.)

Und was ist das denn für eine Landschaft, in die uns die aufgeputschte Gruppe zu Spielbeginn entlässt oder verstösst? Weniger Landschaft übrigens als um eine Strasse (denn die ist die Hauptsache) arrangierte Flächen in einer anderen Farbe als Asphaltgrau. In einem heftigen Anfall absurdistischen Humors hat Suzuki behauptet, er habe vor der Entwicklung des Games extra eine Tour durch Europa unternommen, um die europäisch angehauchten Szenerien realistisch abbilden zu können. Die Sache sieht natürlich etwas anders aus: zu beiden Seiten der verkehrsreichen Strassen erstrecken sich weitgehend unbelebte Gegenden, unheimliche Täler voller grotesker Verzerrungen tatsächlich existierender Landschaften. Da ragen gelegentlich etwas an Stonehenge gemahnende Steinpfeiler unerklärt unweit von vereinzelten Windmühlen aus der Szenerie, in der Ferne steht ein Eiffelturm wie halbbewusst dahingepixelt. Auch die Tönungen des Himmels lassen sich von den Beschränkungen einer natürlichen Farbpalette nicht aufhalten. Mit einer realistischen Abbildung Europas hat das ungefähr so viel zu tun wie der Europapark. Tatsächlich erzeugt diese Ansammlung von Versatzstücken eher den Eindruck eines ruinösen Themenparks denn eines „natürlich“ gewachsenen Kontinents; als Europäer darf man an diesen Stellen nachvollziehen wie sich Wolfram von Eschenbach an einem Mittelalterfestival fühlen dürfte.

 3

Nichts an diesen Landschaften ist auch nur annähernd „authentisch“ – nur konsequent wenn man bedenkt, dass dieses „Europa“ im Spiel zwischen Kalifornien und der US-Ostküste liegt. (Man bedenke hier auch den natürlichen Lebensraum des Games: in Penny Arcades, in Spielhallen, der Spieler sitzend in einer Konsole, die optisch weniger einem bestimmten Ferrari, als eher dem Ferrari als Abstraktum – rot, Räder, mehr Auspuffe als gewöhnlich – angelehnt ist). Aber der Themenpark ist in Out Run eben ständig das, was er nicht sein sollte: völlig ausgestorben. Zur akustischen Übertünchung der Leere steht dem Spieler immerhin nicht nur Motorenlärm zur Verfügung: Die sportwageneigene Soundanlage kennt vier halbwegs verschiedene Tracks, in denen eine japanische Rockband, von Segas Chefetage mit Designerdrogen bei der Stange gehalten und von Zeit zu Zeit mit wohldosierten Schlägen gefügig gemacht, karibische Rhythmen und hochtönige Gitarrensoli zu einer gewagten Kombination vermischt. Somit pflegt auch der Soundtrack ein ganz eigenes Verhältnis zum Konzept der Authentizität.

Und vielleicht ist das Out Runs grossartigste Leistung: Lange vor Titeln wie Fallout oder Deus Ex eine gründliche Dystopie im Game entworfen zu haben. In einer weitgehend lebens- und sinnentleerten Welt rasen die Verbleibenden blind vorwärts, ohne die schützende Hülle der wie eine Umarmung um sie geschlossene Karosserie je zu verlassen: Existenz als Flucht nach vorne, das Auto als ihr notwendiges Instrument. Unter diesem Gesichtspunkt ist das (damals skandalöse) Carmageddon (Stainless Games, 1997) vielleicht als Prequel zu Out Run zu lesen: Dieses Rennspiel liess sich nicht zuletzt auch dadurch gewinnen, dass man alle auf und neben der Strecke befindlichen Lebewesen wie Kühe, Hirsche oder Menschen zu Tode fuhr. Diese ballardsche Ausrottung der Biosphäre vermittels des Automobils wurde von Carmageddon inszeniert, das radikalere Out Run setzt sie hingegen kurzerhand a priori. Carmageddon liegt schon hinter uns, wenn wir Out Run starten.

Die happy few dieses Universums haben sich im den Überresten Kaliforniens eingenistet und schlagen die Zeit damit tot, besonders heftig zugedröhnte (man darf davon ausgehen, dass auch im postapokalyptischen Kalifornien Drogen kein Mangel sein werden) Zeitgenossen in einen roten Sportwagen zu stecken und wortwörtlich in die Wüste zu schicken; man kann sie sich vorstellen, wie sie Wetten abschliessen auf das Zurückkommen jener Auserwählten. Wenig wissen sie offenbar darüber, dass sich eigentlich nur zwei Möglichkeiten bieten. Entweder baut der Fahrer irgendwo einen Unfall, worauf er mit seiner Begleiterin inmitten einer menschenleeren Landschaft feststeckt. Unter einem weniger neonfarbenen Himmel waren sie vielleicht Geliebte, jetzt verbringen sie ihre letzten Tage mit gegenseitigen Zerfleischungen in einer toten Wüstenei, befeuert durch heftige Entzugserscheinungen, bis beide an Einsamkeit und Hunger zugrunde gehen. Oder aber sie erreichen das Lager einer obskuren Sekte. Dort fantasiert sich der Fahrer unter dem Einfluss weiterer (oder besserer) Substanzen ein paar charmante Bauchtänzerinnen herbei. In beiden Fällen ist nicht anzunehmen, dass Fahrer und Beifahrerin jemals zurückkehren, womit der Wettausgang eigentlich von Anfang an klar sein müsste. Aber die Sinnfrage ist eben, auch was die Wetten jener happy few angeht, fehl am Platz.

4

700 km/h

Out Run hat im Übrigen zwei offizielle Nachfolger hervor gebracht, die an der konzeptionellen Stromlinienform wenig bis nichts verändert haben und deren Mehrwert sich auf grafische Aufpolierung beschränkt – was bei einem so oberflächenfreudigen Game natürlich nicht unwesentlich ist. Aber Nachfolger sind bei einem erfolgreichen Titel nichts Besonderes. Ungleich interessanter ist, dass Out Run auch einen Musikstil nach sich gezogen oder vor sich her geschoben hat, der beim ersten Hören mit den gewagten Transkontinentalfusionen des Originalsoundtracks nichts gemein zu haben scheint. Dieser Musikstil verdiente eingehendere Besprechung, im Folgenden soll aber ein Überblick genügen, um den Fokus auf das Game nicht zu verlieren. In Nantes und also quasi unter den Augen Paul Virilios entstanden, ohne Abstand (OutRun) geschrieben und auch als Synthwave oder Retrowave bekannt, zeichnet sich diese relativ junge Musikrichtung durch meist instrumentale elektronische Stücke aus, deren Effekte aus den Arsenalien der achtziger Jahre entliehen sind – Drumcomputer, heftiger Gated Reverb und natürlich Synthesizer en masse. Die Künstler nennen sich College, Nightstop, Miami Nights 1984, Timecop1983 oder auch Judge Bitch, die Ästhetik orientiert sich an Videospiel- und Filmsoundtracks jenes Jahrzehnts. Die Behauptung, die Bewegung wünsche sich in die tatsächlichen Eighties zurück, ist allerdings ebenso falsch wie diejenige, die Spieler von Out Run wollten sich dabei Europa ansehen. Der Wunsch ist ja gerade, bloss aus den zentralen Versatzstücken eine Simulation zu entwerfen (also ein in die Zukunft gerichtetes Unterfangen), in denen der „Geist“ einer Zeit nicht durch die übrigen Eigenschaften ebendieser Zeit getrübt wird: eine Nostalgie nach vorne. Das tatsächliche Jahr 2085 ist für diese Bewegung von grösserem Interesse als das Jahr 1985. In der Tat ist das Retrowave-Unterfangen also ein Rennen gegen die Zeit, eine Flucht nach vorne, und hier zeigt sich die Wesensverwandtschaft mit dem titelgebenden Game. Denn „running out“ ist sowohl die Zeit (bis zur nächsten Stage, bis zum Jahr 2085) als es auch die Protagonisten sind (die nach vorne flüchtenden Gamer, die nach vorne flüchtenden Synthwave-Künstler). So ist denn auch noch die letzte lichtscharfe Synthesizerfläche vom Gedanken durchdrungen, es liesse sich durch die richtige Beschleunigung ein Punkt erreichen wo alles in makelloser Gleichzeitigkeit still stünde und wo nicht mehr unterscheidbar wäre, ob man von hinten in die Vergangenheit blickt oder von vorne in die Zukunft. Wie tief erschiene da jede Oberfläche, und in welchem Magenta leuchtete der Himmel, an dem Begriffe wie Männertraum oder Eskapismus sinnentleert zum Verglühen ansetzten.

 

Dieser Beitrag wurde von Cedric Weidmann geschrieben und am 23. September 2015 um 11:14 veröffentlicht. Er ist unter Porträts abgelegt und mit , getaggt. Lesezeichen hinzufügen für Permanentlink. Folge allen Kommentaren hier mit dem RSS-Feed für diesen Beitrag.

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