Gastbeitrag von ANDREAS MEIER.
Der ukrainische Immigrant Andrus ist neu in Georgetown, wo er einen Zeitungsstand übernimmt, um den Lebensunterhalt für sich und seine geliebte Katze Mr. Glembovski zu verdienen. Kann er genug verdienen, um seine Miete zu bezahlen?
Melanie ist nach ihrer Scheidung zu ihrer Schwester gezogen. Sie will einen Kaffeestand eröffnen und genug verdienen, um den Richter davon zu überzeugen zu können, dass sie das Sorgerecht für ihre Tochter Laura übernehmen kann.
Vinny hat in seinem Leben so ziemlich jeden Job einmal gemacht, doch seine Leidenschaft ist die Gastronomie. Nun ist er in seine Heimatstadt zurückgekehrt, um einen Bagelstand zu betreiben.
„Cart Life“ (2011), der berühmte Strassenverkäufer-Simulator von Richard Hofmeier, lässt dem Spieler die Wahl zwischen drei Bewohnern der fiktiven US Stadt Georgetown. Alle drei verbringen den Grossteil des Tages auf der Strasse, kämpfen mit ihrer ökonomischen Lage und Myriaden kleiner Alltagssorgen.
Die frühen Momente mit dem Spiel sind überwältigend, ja furchteinflössend. Mein erster Versuch mit Melanie war ein Debakel. Als ich endlich herausgefunden hatte, wo man sich einen Stand beschaffen kann, schickte mich der Mechaniker zum Gerichtsgebäude, wo sich – nach einer gezogener Nummer und langer Warterei – eine teure Verkaufslizenz erwerben liess. Beim zweiten Besuch beim Mechaniker realisierte ich, dass man zuerst eine Espressomaschine zum Einbauen hätte kaufen müssen. Der Supermarkt war um die Ecke, doch Melanie hatte ihrer Tochter versprochen, sie von der Schule abzuholen, und dazu war es schon fast zu spät. Nach teuren aber schnellen Taxifahrten zur Schule und dann zum Supermarkt ging’s zum dritten Mal zum Mechaniker. Bloss hatte ich da schon zu viel Geld ausgegeben und konnte mir den Stand nicht mehr leisten. Beim Pfandleiher nebenan wollte ich Melanies Uhr und Ehering verpfänden, doch der Laden war bereits geschlossen. Der letzte Bus fuhr mir vor der Nase davon und so musste Melanie erschöpft und hungrig den ganzen Weg nach Hause zu Fuss gehen.
Die Details von Georgetown sind beeindruckend, doch es bleibt selten Zeit, sie zu bewundern. Es gibt zu viele Dinge, die es zu tun und an die es zu denken gilt. Andrus braucht einen steten Vorrat an Katzenfutter für Mr. Glembovski und Zigaretten für seine Nikotinsucht; er darf auch nicht vergessen, die Vertragsgebühren für die Zeitungen zu bezahlen. Vinny braucht zahlreiche Zutaten, um seine Bagels zu backen und neue Sorten verkaufen zu können, sowie Koffein, um richtig zu funktionieren.
Wenn alles gut läuft verbringt der Spieler den Grossteil der Zeit jedoch an seinem Stand, wo Bestellungen entgegengenommen und die Kunden mit schneller Bedienung und Smalltalk bei Laune gehalten werden müssen. Bei jeder Bestellung muss der Spieler mit Minispielen Geschick und Schnelligkeit demonstrieren, um sie korrekt auszuführen, und schliesslich das richtige Wechselgeld aus der Kasse heraussuchen. Wenn das alles gut läuft winkt womöglich sogar ein Trinkgeld.
Es ist ein monotoner und repetitiver Vorgang, untermalt von grossem Stress – und das ist einer der mutigen Geniestreiche von „Cart Life“. Kaum einem anderen Spiel gelingt es so gut, Empathie für seine Protagonisten durch wenig mehr als blosse Spielmechanik zu erzeugen. Während die meisten Spiele Wahlfreiheit, Selbstverwirklichung und die Freude überwundener Hindernisse vermitteln wollen, fokussiert „Cart Life“ ganz auf die Einschränkung von Freiheit durch den Zwang diverser, vor allem ökonomischer und zeitlicher, Umstände. Anders als etwa in „The Sims“ wird der Protagonist hier nie reich werden, sich nie ein Haus leisten können, in dem man mit schicken Möbeln seinen materialistischen Selbstverwirklichungsträumen frönen könnte. Anders als in einem Wirtschaftssimulator kann hier kein weites Handelsimperium aufgebaut werden, das man stolz zurücklehnend bewundern könnte.
„Cart Life“ hat viel mehr mit Lucas Popes brillantem „Papers, Please“ (2013) gemein, das den Spieler den Alltag eines Grenzkontrolleurs in einem totalitären Staat erleben lässt. „Cart Life“ ist bedrückend, frustrierend und nervenaufreibend, doch hinter der grauen Ästhetik, dem Geld und den Zahlen versteckt sich ein erstaunlich berührendes Erlebnis, das soziale Relevanz und eine ganz eigentümliche Schönheit besitzt.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Oktober-Ausgabe 2014 des Kulturmagazins Ensuite.