Freies Feld

„Eidolon“: Transzendenz im Videospiel

Gastbeitrag von ANDREAS MEIER.

„Eidolon“ verschlägt den Spieler in die Einsamkeit und Weite der Wildnis. Als namen- und gesichtsloser Protagonist mit nichts als einem Kompass in der Hand beginnt die Reise an einem bewaldeten Hang. Über den Bäumen und umschwebt von Wolken und Raubvögeln ragen schneebedeckte Berge in den Himmel; am Fuss des Hanges liegt ein See, dessen Enden nicht sofort ersichtlich sind. Im Wald lassen sich Pilze und Brennmaterial einsammeln, doch bald will ein Weg eingeschlagen werden. Die Entscheidung ist nicht leicht; die Welt ist offen, ein klarer Weg nicht vorgeschrieben. Nach kurzem stolpert man über die vereinzelten Überreste menschlichen Lebens. Leuchtende Punkte in der Landschaft ziehen die Aufmerksamkeit auf sich: manchmal sind es nützliche Werkzeuge wie eine Angelrute, häufiger Schriftzeugnisse aus vergangenen Zeiten, die von Katastrophen berichten. Die Einsamkeit, die zusammengestürzten Hochspannungsleitungen und überwucherten Strassen machen schnell deutlich, dass die menschliche Zivilisation vor langer Zeit ein Ende gefunden hat. Zu überleben und einen Einblick in das Ende der Menschheit zu erhalten ist alles, was es zu tun gibt. Wer eine Welt retten möchte, wird hier enttäuscht werden.
Das Wort Eidolon hat eine zweifache Bedeutung; einerseits bezeichnet es ein Phantom, einen Geist, andererseits ein Ideal. Die verschwundene Menschheit als Phantom, das die idealisierte Schönheit der Natur heimsucht. Doch die Natur selbst hat auch etwas Geisterhaftes, etwas Immaterielles. Die leicht stilisierten, texturarmen Formen der Landschaften, die eher auf die Essenz der Dinge verweisen als auf deren Materialität, das Licht, das die Welt je nach Tageszeit in anderen Farbtönen aufglühen lässt, und die sphärenhafte Musik erwecken einen starken Eindruck des Transzendentalen.
Transzendenz stützt sich stark auf den Kontrast zwischen der Kleinheit und Ignoranz des Individuellen und der unabsehbaren Grösse und Komplexität des Ganzen. „Eidolon“ arbeitet hart, um Gefühle der Ehrfurcht, der Ergriffenheit und des Staunens hervorzurufen. Die Welt von „Eidolon“ ist gigantisch. Wenn sich am Morgen der Nebel lüftet bieten sich dem Spieler häufig atemberaubende Aussichten auf ferne Wälder, Täler und Berge, die bloss einen winzigen Bruchteil der gesamten Welt ausmachen, und die mit genügend Geduld erreichbar sind. Die Bewegung des Spielers ist langsam, und das Vorankommen wird weiter gebremst durch die Nahrungssuche, unpassierbare Hindernissen und erschwerte Sichtverhältnisse wie Dunkelheit und Nebel. Hin und wieder können Karten gefunden werden, die zwar enorm wichtig, aber anders als in den meisten Spielen schwer zu lesen sind. Das Auffinden eines selbstgesetzten Ziels nach langer Suche, etwa der Ruine einer bestimmten Stadt, kann enorm befriedigend sein.
Diese konsequente Hingabe zu enormer Langsamkeit in einer gewaltigen, einsamen Welt ist eine Seltenheit in Videospielen. Das Open World-Genre ist im Mainstream zwar sehr beliebt und bietet häufig offene, weitläufige Gebiete, doch wimmeln diese oft von kurzweiligen Beschäftigungen. Auch Bewegung sieht ganz anders aus: Oft kann sich der Spieler jederzeit an bestimmte, bereits entdeckte Punkte der Karte ‚teleportieren‘ lassen, um sich lange Wege zu ersparen, oder kann zumindest auf Fortbewegungsmittel zurückgreifen. „Eidolon“ lädt zum Durchstreifen seiner Welt ein, doch die zurückgelegten Distanzen sind ‚echt‘. An einen bereits besuchten Ort zurückzukehren kann mehrere Stunden in Anspruch nehmen.
All dies erweckt einen Eindruck von Mühsal und Verlorenheit, der die Welt glaubhaft macht und eine starke Immersion ermöglicht. Doch „Eidolon“ ist kaum je mühsam zu spielen. Zu überleben ist nicht schwer; die Suche nach Nahrung etwa dient weniger als Herausforderung denn als Erinnerung an die Verletzlichkeit und Abhängigkeit des Spielers von der Natur. Das Navigieren der Welt dagegen ist eine grössere Herausforderung, doch da der Weg und die damit verbundenen Sinneseindrücke mindestens ebenso wichtig sind wie das Ziel ist dies selten frustrierend.
Im Gegenteil; die Langsamkeit und Ruhe von „Eidolon“ gepaart mit wohl einer der schönsten virtuellen Welten überhaupt und dem nicht minder beeindruckenden Soundtrack entwickeln einen geradezu hypnotischen, meditativen Sog.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der September-Ausgabe 2014 des Kulturmagazins Ensuite.

Dieser Beitrag wurde von Yoshi geschrieben und am 27. Oktober 2014 um 18:11 veröffentlicht. Er ist unter Gedanken abgelegt und mit , getaggt. Lesezeichen hinzufügen für Permanentlink. Folge allen Kommentaren hier mit dem RSS-Feed für diesen Beitrag.

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